18. März 2023

Kindeswohlgefährdung, häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch

Die Zeit des Wegsehens ist vorbei!

© Dr. Ulrike Wendt

Die Kette spektakulärer Fälle, die das kollektive Entsetzen über die den Kindern zugefügte Qual immer weiter steigerte, ist bekannt. Dafür stehen Ortsnamen wie Lügde, Münster, Bergisch Gladbach und Wermelskirchen. So intensiv die Öffentlichkeit bei diesen spektakulären Fällen hinsah, so stumm und unerkannt ist bis zu diesem Augenblick die Situation vieler Kinder, die in ihrem Alltag unbeschreibliche Leiden erdulden müssen. Als Psychiaterin begann ich im Laufe meiner Tätigkeit erst langsam das Ausmaß der Problematik und die Schwere der Konsequenzen solcher Qualen zu begreifen.

Ärztinnen und Ärzte wollen schon seit Jahren nicht tatenlos zusehen, wenn sich ihnen, und das oft unvorbereitet, ein Einblick in Gewalt gegen Kinder ergibt. Dazu benötigen sie Aus- und Fortbildung in der Erkennung von Gewaltfolgen.

In diesem Sinne ist das aktuelle Heft ein wichtiger Schritt dieser Entwicklung. Mit qualifizierenden Kenntnissen und Kontakten zu erfahrenen Kolleginnen und Kollegen, die die Eindrücke verifizieren können, kann Kindern geholfen werden. Flächendeckende Kinderkompetenzzentren als Ansprechpartner sowie ärztliche Kompetenz in jedem Jugendamt sind Forderungen, die sich für meinen Mann und mich aus unseren Fortbildungsveranstaltungen zum Thema zwingend ableiteten, die aber bis heute unerfüllt blieben.

Einem praxisorientierten Umgang mit dem Verdacht auf Gewaltfolgen bei Kindern stellen sich den ärztlichen Behandlern immer noch rechtliche Hemmnisse durch intransparente Strukturen entgegen. Auch wenn das Bundeskinderschutzgesetz Handlungswege vereinfacht hat, insbesondere die Kontaktaufnahme mit dem Jugendamt und den in der Sache erfahrenen Fachkräften, so bleibt die innerärztliche Kommunikation, um die es in akuten Fällen ja in der Regel geht, bis heute zumeist unbetroffen. Hierzu ist dann die Befreiung von der ärztlichen Schweigepflicht erforderlich. Da gewalttätige Erziehungsberechtigte kein Interesse an einer solchen Befreiung haben, bleibt dem Behandler als einziger innerärztlicher Kommunikationsweg nur der von ihm selbst zu erkennende, zu deklarierende und zu dokumentierende rechtfertigende Notstand, um die Schweigepflicht zum Wohle des Kindes zu brechen.

Zum Wohle der Kinder benötigen wir aber eine bundesweite, transparente und anwendbare Rechtsgrundlage ärztlichen Handelns, die sich in die verbesserte Aufmerksamkeits- und Therapiestruktur einfügt.

Autorin
Dr. Ulrike Wendt
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Oldenburg

Interessenkonflikte:
Die Autorin hat keine deklariert.


Bisher erschienen

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Gastkommentare


Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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