
15. September 2022
Priorisierung in der Medizin
Lehren aus der Pandemie
Der ärztliche Behandlungsauftrag definiert, dass das Wohlergehen der Patienten ohne Ausnahme im Mittelpunkt des Handelns stehen muss. Was aber tun, wenn die für solche Handlungen notwendigen Ressourcen nicht zur Verfügung stehen? Insbesondere die COVID-19-Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass eine Orientierung alleine am individuellen Bedarf in vielen Situationen nicht ausreicht: Sind Ressourcen knapp, dann werden Verteilungsentscheidungen unumgänglich. War das Wort „Priorisierung“ in diesem Zusammenhang vor 10 Jahren noch ein vermeintlich unethischer Begriff, gehört es heute in den allgemeinen Sprachgebrauch.
Der demografische Wandel und der medizinische Fortschritt – in einer Zeit unterschiedlichster gesellschaftlicher Herausforderungen wie der Pandemie, der Flüchtlingskrise, des Ukrainekriegs, der Energie- und Klimakrise – machen es unabdingbar, auch über eine gerechte Verteilung von Gütern im Gesundheitswesen zu sprechen. Es muss eingeübt werden, faire und differenzierte Priorisierungskriterien, mit deren Hilfe der ärztliche Behandlungsauftrag erfüllt werden kann, zu entwickeln und zu etablieren. Ein solches Kriterium könnte z.B. das Alter sein, über dessen Bedeutung wir in den zurückliegenden zweieinhalb Jahren besonders intensiv debattiert haben: Brauchen ältere Menschen in jedem Fall intensivmedizinische Behandlung, haben sie Vorrang bei der Impfung und sollten sie aufgrund ihrer Vulnerabilität stets vorgezogen werden? Da meldet sich Widerstand.
Diejenigen, die den Erfolg einer medizinischen Behandlung als Ausgangspunkt einer verantwortbaren Indikation sehen, schütteln den Kopf. Die Wahrscheinlichkeit, z.B. von einer intensivmedizinischen Behandlung zu profitieren, reduziert sich statistisch mit zunehmendem Alter. Die Wahrscheinlichkeit, von einer Impfung gegen SARS-CoV-2 zu profitieren, steigt mit zunehmendem Alter. Aus dieser Feststellung könnte der Schluss abgeleitet werden, medizinische Kriterien könnten wertneutral Orientierung beim Umgang mit knappen medizinischen Gütern geben. Dabei wird leicht übersehen, dass die Zurückstellung einzelner Bedürftiger erhebliche ethische Probleme mit sich bringt – gerade im Hinblick auf die Frage, welche Gründe für den Mangel ursächlich sind. Handelt es sich um einen strukturell bedingten Engpass, wie z.B. bei Spenderorganen in der Transplantationsmedizin, um einen logistischen, wie z.B. die Bereitstellung von Behandlungsmöglichkeiten in entlegenen Gebieten, oder geht der Mangel auf finanzielle Interessen bzw. Möglichkeiten zurück?
In jedem Fall sind Ärzte gezwungen, ihren Blick auf individuelle Patienten zu erweitern und konkurrierende Bedarfe abzuwägen, transparent zu machen und stets darum bemüht zu sein, Gerechtigkeitskriterien zum Durchbruch zu verhelfen. Das ist eine neue Qualität im Bereich ärztlicher Verantwortung, die es zwingend auszubilden gilt, damit sich auch in Zukunft die Patienten in unserem Land darauf verlassen können, dass sie mit ihren Sorgen und Nöten in der Ärzteschaft ihre Versicherung haben. Gelingt das nicht, dann ist die über die hippokratische Tradition wohlbegründete Arzt-Patienten-Beziehung obsolet. So weit darf es die Ärzteschaft nicht kommen lassen!
Autor
Prof. Dr. Dr. med. Dr. phil. Dr. theol. h.c. Eckhard Nagel
Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften/Ordinarius Lehrstuhl für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften
Universität Bayreuth
ehem. Mitglied des Deutschen Ethikrats (2008–2016)
Bisher erschienen
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Gastkommentare
Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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