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9. Mai 2023

Reformkonzept zur Notfallversorgung

Geld und Personal fehlen, Konzept ist ein Luftschloss

Das Reformkonzept der Krankenhauskommission zur Notfallversorgung steht auf zwei Säulen: Integrierte Notfallzentren (INZ) im Krankenhaus und Integrierte Leitstellen (ILS) unter der Rufnummer 112 zur telefonischen Ersteinschätzung mit standardisiertem Ersteinschätzungsverfahren. DEGAM-Sektionssprecher Dr. med. Uwe Popert ist kritisch. Das Konzept sei eine Totgeburt, weil Finanzierung und Personalplanung auf Sand gebaut seien. Stattdessen fordert der Allgemeinarzt endlich Konzepte zur Patientensteuerung.

Die Krankenhauskommission fügte ihrem Konzept für Notfälle das Instrument der Videosprechstunde hinzu. Wenn die Leitstelle glaubt, dass eine telefonische oder telemedizinische Versorgung in Form einer Tag und Nacht verfügbaren Videosprechstunde ausreicht, dann soll das sofort geschehen – inklusive einer potenziellen Verordnung von Notfallmedikamenten. Die übrigen Fälle sollen nach den Vorschlägen der Kommission in den Genuss sofortiger Terminbuchungen in Ambulanzen, Notdienstpraxen oder Rettungsstellen kommen. Die Regierungskommission schlägt zusätzlich zum Rettungsdienst einen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst sowie mittelfristig auch einen pflegerischen Notfalldienst vor. Wartezeiten sollen laut Kommission in Zukunft gewissermaßen verboten werden. Wenn definierte „Höchstwartezeiten“ überschritten werden, schlägt die Kommission Sanktionen vor.

420 Integrierte Notfallzentren sind an Kliniken geplant

Aus den Rettungsstellen der Krankenhäuser und den Notfallpraxen der KVen sollen Integrierte Notfallzentren entstehen. Die Kommission schlägt 420 INZ an Kliniken in Deutschland vor. Ein gemeinsamer Triage-Tresen soll die medizinischen Entscheidungen treffen. Die Krankenhäuser entscheiden dabei, wer am Tresen das Sagen hat. Es wundert nicht, dass sich die Begeisterung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in engen Grenzen hält. Der Vorstandsvorsitzende Dr. Andreas Gassen erkennt bestenfalls „brauchbare Ansätze“. Insgesamt sei das Konzept unrealistisch und Wunschdenken vom grünen Tisch.

Gassens Einschätzung liegt sehr nahe bei der Auffassung von Dr. med. Uwe Popert, Facharzt für Allgemeinmedizin aus Kassel und Sektionssprecher Hausärztliche Praxis der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). „Das wird scheitern“, sagt Popert kurz und knapp. Sein zentraler Kritikpunkt ist die Kliniklastigkeit des Konzepts, das komplett an der Realität in der allgemeinärztlichen Praxis vorbeigeht. Zur Entlastung der stationären Basisversorger der Versorgungsstufe 1 und eventuell auch der Krankenhäuser der Stufe 2 sieht der Reformentwurf eine verpflichtende 24/7-Bereitschaft von Hausärzten, Chirurgen und Anästhesisten im Krankenhaus vor. Der aktuelle Entwurf werde an fehlender Finanzierbarkeit und Personalmangel scheitern.

Ältere Hausärztinnen und Hausärzte werden in Rente gehen

Zwei von zehn niedergelassenen Allgemeinärzten bzw. Hausärzten sind heute älter als 65 Jahre. Nach Einschätzung Dr. Poperts werden sie einfach in Rente gehen, wenn das Bundesgesundheitsministerium sie zum Notdienst im Krankenhaus zwingen will. „Das kann ich für mich eindeutig so ankündigen“, unterstreicht Dr. Popert. Aber auch die Alternative hätte negative Folgen: Falls die Älteren vom Bereitschaftsdienst ausgenommen werden, müssten sie die Lücken der Bereitschaftsdienstleister in den Praxen durch ihre Arbeit füllen. Auch das sei wenig realistisch. Nicht nur die KBV ist skeptisch, auch die Kassenärztliche Vereinigung Hessen hat Einspruch gegen das Reformkonzept der Kommission erhoben, weil die Planung gar nicht in die gegenwärtige Rechtslandschaft hineinpasse.

„Die Doppelbelastung der niedergelassenen Allgemeinärzte in der Praxis und im ärztlichen Bereitschaftsdienst der Krankenhäuser wird dazu führen, dass sich der Ärztemangel in der Niederlassung verschärfen wird. Diese Reform wird die hausärztliche Versorgung massiv gefährden“, ist Dr. Popert überzeugt. In Hessen würden z.B. sämtliche 56 Standorte des ärztlichen Bereitschaftsdienstes weiter betrieben, wobei 24 der 56 Einrichtungen zu Integrierten Notfallzentren in Krankenhäusern ausgebaut werden sollen. „Es wird sehr schwierig werden, diese Bereitschaftsdienste zu besetzen, denn Allgemeinärzte müssen ihre Praxis versorgen und zusätzlich diesen ausgeweiteten Bereitschaftsdienst im Krankenhaus. Das ist nicht trivial. Wir arbeiten durchschnittlich 50–60 Stunden pro Woche und sollen jetzt noch zusätzlich die Krankenhäuser retten – und zwar auch während der normalen Sprechzeiten“, kritisiert Dr. Popert das Konzept.

In der Praxis bedeutet es, dass der erforderliche Facharzt für Allgemeinmedizin im Krankenhaus gar nicht oder kaum vorhanden sein wird – mit schwerwiegenden Folgen. „Die Versorgung eines Menschen mit Thoraxschmerzen zum Beispiel bezieht sich in der allgemeinärztlichen Ebene vor allen Dingen auf orthopädische Probleme bzw. Magenprobleme bei jüngeren Leuten“, unterstreicht Dr. Popert. Ein Krankenhaus bearbeite einen solchen Menschen aber im Wesentlichen mit der Zielsetzung „Ausschluss Herzinfarkt“. In zwei von drei Fällen stelle das Krankenhaus am Ende fest, dass der Patient keinen Herzinfarkt hatte und deshalb gesund sei. „Die Folge ist eine Fehl- oder Unterdiagnose. Bei einer zweiten Untersuchung in der Praxis für Allgemeinmedizin werden dann nochmal Ressourcen verwendet, um die richtige Indikation zu finden. In einem solchen Fall besteht keine Möglichkeit, dem Krankenhaus ein Feedback zu geben. Die häufigste Diagnose bei jungen Leuten mit Thoraxschmerzen ist die Costochondritis – eine Diagnose, die es im Krankenhaus gar nicht gibt.“

Neben den personellen und medizinischen Problemen der Reform mangelt es auch an Geld. Da sich weder das Bundesgesundheitsministerium noch die Gesundheitspolitiker bislang zur Finanzierung der neuen Struktur geäußert haben, vermutet Dr. Popert, dass am Ende kostenneutral und nicht extrabudgetär über die morbiditätsbezogene Gesamtvergütung finanziert werden soll. „Im Klartext heißt das: Wir Hausärzte sollen unseren Bereitschaftsdienst auch noch selbst bezahlen“, ärgert sich Dr. Popert. Man wolle diejenigen, die 50 bis 60 Stunden wöchentlich arbeiten, dazu bringen, eine zusätzliche Schicht im Krankenhaus zu übernehmen.

„Staubsauger“-Effekt der Ambulanzen erschwert die Patientensteuerung

Dabei ist das Problem der inflationären Notfälle in Ambulanzen Krankenhaus-gemacht. Der Krankenhaussektor habe die Zahl der Ärztinnen und Ärzte seit der Jahrhundertwende verdoppelt. „Die Krankenhausambulanzen arbeiten als ,Staubsauger’, um Einweisungen zu generieren. Trotzdem ist der stationäre Sektor aufgrund der Bürokratie ineffizient, teuer und defizitär“, so der DEGAM-Sprecher. Eigentlich sei eine Ambulanz nur zu einer wirklichen Nothilfe verpflichtet und nicht mehr. Die Notfallreform wird diese Systemfehler aus Sicht von Dr. Popert noch verstärken, weil diese Reform die Selbsteinweisung der Patienten noch fördern werde. „Man treibt immer mehr Patienten ins Krankenhaus, weil dort eine schnelle und gute medizinische Versorgung versprochen wird.“

IVENA-Modell kann Patienten beeinflussen

Die KV Hessen bietet die Alternative des IVENA-Systems. Bei falscher Allokation eines Patienten in der Krankenhausambulanz kann der Krankenwagen auch eine hausärztliche Praxis ansteuern und den Patienten dort abgeben. Das ist ein hessischer Sonderweg, auf dem Patienten lernen, dass sie im Krankenhaus falsch gewesen sind. „Aus meiner Sicht ist das die einzig vernünftige Notfallreform, um Patientenströme besser zu steuern. Eine weitere Alternative besteht darin, die Krankenhausambulanz tagsüber ganz zu schließen, damit die Patienten lernen, in die richtige Richtung zu laufen“, hofft Dr. Popert.

Bundesärztekammer mahnt zur Einbindung ärztlicher Kompetenz

Positiv hat sich die Bundesärztekammer zur Notfallreform geäußert. „Wir sprechen seit mehr als zehn Jahren über eine Reform der Notfallversorgung in Deutschland. Geschehen ist bisher nichts. Deshalb ist die wichtigste Nachricht des Tages, dass mit den Empfehlungen der Regierungskommission für eine Neuordnung der Akut- und Notfallversorgung endlich Bewegung in den festgefahrenen Reformprozess kommt“, kommentierte Bundesärztekammer-Präsident Dr. Klaus Reinhardt die Empfehlungen der Krankenhauskommission.

Viele Vorschläge sind aus Sicht der BÄK nicht neu und waren bereits Bestandteile des von der Vorgängerregierung vorgelegten Referentenentwurfs aus dem Jahr 2020. Die Schwierigkeiten liegen laut Dr. Reinhardt bei der konkreten Umsetzung im Detail. „Diese Reform wird nur gelingen, wenn die Kompetenzen derjenigen einbezogen werden, die über ärztliche Erfahrung in der Notfallversorgung verfügen. Zudem muss die sektorenübergreifende Expertise der Ärztekammern unbedingt in den Gesetzgebungsprozess einbezogen werden“, so BÄK-Präsident Dr. Reinhardt.

Einen positiven Aspekt sieht auch Allgemeinarzt Dr. Popert in der Reform. Wenigstens könnte dann das Know-how der Hausärzte in der Klinik eingesetzt werden. Aber selbst das fruchtet in diesem Konzept nicht, weil die Krankenhausärzte in den Integrierten Notfallzentren das letzte Wort haben sollen. Das passt nicht zusammen.

Autor
Franz-Günter Runkel
betreut als freier Redakteur die Ressorts Berufs- und Gesundheitspolitik, Wissenschafts- und Hochschulpolitik.


Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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