
1. Februar 2023
Interview mit Anke Richter-Scheer
Hausärztliche Medizin muss in den Fokus rücken
Kurz vor Weihnachten 2022 war „Der Allgemeinarzt“ zu Gast beim Hausärzteverband Westfalen-Lippe. Mit der Vorsitzenden Anke Richter-Scheer, parallel auch stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbands, sprachen wir über die Integration der Hausarzt-Internisten, Nachwuchs und Weiterbildung, die Gesundheitskioske, das Primärarztmodell und das elektronische Rezept. Richter-Scheers Fazit: „Die hausärztliche Medizin muss gestärkt werden, unsere Per-spektive muss Berücksichtigung finden.“
Frau Richter-Scheer, warum ist die Integration der Hausarzt-Internisten ein so komplexes Thema?
▸▸▸ Anke Richter-Scheer: Der Deutsche Hausärzteverband umfasst eine heterogene Gruppe, zu der zwei Drittel Fachärzte für Allgemeinmedizin, ein Drittel Fachärzte für Innere Medizin mit hausärztlichem Schwerpunkt und theoretisch auch Kinder- und Jugendärzte gehören. Gewisse Unterschiede liegen da in der Natur der Dinge – selbst innerhalb einer Facharztgruppe gibt es durch die vielen unterschiedlichen Schwerpunkte ja Varianz. Das Thema, dem sich der Hausärzteverband aktuell widmet, ist die Weiterbildungsberechtigung für Allgemeinmedizin.
Wo liegt das Problem in der Weiterbildung?
▸▸▸ Richter-Scheer: Es gab gerade in der Vergangenheit immer wieder Meinungen, die aus unterschiedlichen Gründen daran festhalten möchten, dass die Weiterbildungsermächtigung für Allgemeinmedizin den Fachärzten für Allgemeinmedizin vorbehalten bleibt. Vor dem Hintergrund, dass die Gruppe der hausärztlichen Internisten in der hausärztlichen Versorgung aber eine immer größere Rolle spielt, brauchen wir in dieser Frage eine pragmatische Lösung, die bei entsprechendem Kompetenznachweis eine Gleichstellung in der Weiterbildung ermöglicht. Am Ende werden aber ohnehin die Landesärztekammern in dieser Frage der Weiterbildungsordnung entscheiden müssen.
Worin liegt denn die Ungleichheit in der Weiterbildung?
▸▸▸ Richter-Scheer: Es geht um die Gleichstellung der Weiterbildungszeit für Allgemeinärzte und hausärztliche Internisten; beide Facharztgruppen müssen aus meiner Sicht bundesweit eine Gleichstellung für die Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin erhalten. Die Diskussion über dieses Thema findet immer stärker auch in anderen Landesverbänden statt. Unser Bundesverband hat sich diesbezüglich nun gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) positioniert. Nun wird es hoffentlich auch entsprechende Empfehlungen an die Kammern geben. In Bayern und Baden-Württemberg gibt es die Gleichstellung schon länger. Der Kompromiss kann so aussehen: Wenn ein hausärztlicher Internist fünf Jahre lang niedergelassen ist, dann sollte er – ebenso wie ein Facharzt für Allgemeinmedizin – unter der Voraussetzung der kompetenzbasierten Wissensvermittlung 24 Monate lang zum Facharzt für Allgemeinmedizin weiterbilden dürfen. Dieser Ansatz wird auch dadurch erleichtert, dass die Chirurgie kein Pflichtgebiet in der Weiterbildung mehr ist.
Warum gibt es die Vorbehalte gegen eine Gleichstellung?
▸▸▸ Richter-Scheer: Grundsätzlich glaube ich, dass sich hier in den letzten Jahren schon viel bewegt hat. Wenn ein Arzt in Weiterbildung (AiW) aber zum Beispiel seinen Abschnitt Innere Medizin im Krankenhaus absolviert und in einer diabetologischen Schwerpunkt-Abteilung arbeitet, befasst er sich vier oder fünf Jahre nur mit Diabetologie. Dann besteht die Sorge, dass sich dieser AiW mit seinem einseitigen internistischen Schwerpunkt als hausärztlicher Internist, also als Hausarzt, niederlässt, ohne die hausärztliche Breite der Qualifikation zu haben. Das ist einer der Punkte, der aktuell zur Diskussion führt. Durch die Voraussetzung, dass jeder Weiterbildungswillige vor Erhalt der Weiterbildungsermächtigung mindestens fünf Jahre in einer hausärztlichen Praxis niedergelassen sein muss, ist die nötige hausärztliche Qualifikation aber gegeben.
Hat ein Facharzt für Innere Medizin denn genügend allgemeinärztliche Basisqualifikation?
▸▸▸ Richter-Scheer: Nach fünf Jahren Niederlassung hat er sie sicher. Die Patienten haben in vielen Gebieten immer noch die Möglichkeit, sich ihren Hausarzt je nach Schwerpunkt auszusuchen. In Westfalen-Lippe gibt es aber bereits Gebiete, deren hausärztliche Versorgung ausschließlich durch hausärztliche Internisten gewährleistet wird. Wie wollen wir dorthin einen Weiterbildungsassistenten locken, wenn der Internist nur die Befugnis zur Weiterbildung über zwölf Monate hat? Das müssen wir ändern.
Welche Prioritäten haben Sie in Nachwuchsförderung und Weiterbildung?
▸▸▸ Richter-Scheer: Wir müssen unbedingt an der Umsetzung des Masterplans 2020 arbeiten. Da passiert zu wenig. Als Bremsklotz wird hier noch immer scheinheilig die Finanzierung der Allgemeinmedizin herangezogen. Wir brauchen außerdem dringend mehr Studienplätze. In Westfalen-Lippe haben wir eine sehr enge Kooperation mit den Universitäten und unterstützen die Werbung sowie die Suche nach allgemeinärztlichen Lehrpraxen. Darüber hinaus sprechen wir Kommunen und Kreise an, um für eine Zukunft als Hausarzt zu werben und die jungen Leute für unser Fachgebiet zu begeistern.
Was leistet Ihre Nachwuchsinitiative in dieser Frage?
▸▸▸ Richter-Scheer: Wir wollen den Medizinstudierenden die Augen für die Breite und Vielfalt hausärztlicher Tätigkeit öffnen. Das ist das Ziel unserer „Nachwuchsinitiative Allgemeinmedizin“, die wir vor sieben Jahren ins Leben gerufen haben und die immer erfolgreicher wird. In unseren Informationsveranstaltungen, speziellen Nachwuchsseminaren und Online-Stammtischen vermitteln wir ehrliche Informationen aus der Praxis. Im Rahmen unserer Nachwuchsveranstaltung „Zukunft Praxis“ halten frisch niedergelassene Hausärzte Vorträge, die mit den Klischees des Hausarzt-Berufes aufräumen.
Apropos Klischees. Was halten Sie von der Idee der Gesundheitskioske?
▸▸▸ Richter-Scheer: Die aktuell von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach diskutierten Gesundheitskioske lösen nicht unbedingt die Probleme in der Versorgung. Eventuell gibt es sozial schwache Regionen, in denen man sich, etwa aufgrund fehlender Deutschkenntnisse, kultureller Unterschiede und einer Schwellenangst beim Arztbesuch, eine bestimmte Form von Gesundheitskiosken vorstellen könnte. Sinnvoll kann ein Kiosk z.B. sein, wenn er den Hausarztpraxen in Bezug auf das soziale Umfeld, die arbeits- und sozialmedizinischen Fragestellungen sowie die Anträge auf Pflegegrad und Krankengeld zuarbeitet. Ein Gesundheitskiosk kann sich um diese sozialmedizinischen Fragen kümmern und den Hausarzt um die Ecke unterstützen. Die Ansiedlung und Finanzierung eines solchen Sozialarbeiters in sozial schwächeren Regionen könnte gut in diesen Gesundheitskiosken erfolgen, aber nur, wenn Räumlichkeiten in allgemeinärztlichen Praxen fehlen. Grundsätzlich wäre es allerdings sinnvoller, auf die bereits vorhandenen Strukturen zu setzen, anstatt immer neue aufzubauen.
Die medizinische Kooperation sehen Sie kritischer?
▸▸▸ Richter-Scheer: Ja, das ist so. Was macht etwa ein verunsicherter Patient, wenn der im Kiosk gemessene Blutdruck auffällig ist und er dort keine Antworten auf die Messung erhalten kann? In den Kiosken sollen ja keine Hausärzte tätig sein, sondern Pflegende und Sozialarbeiter. Jeder hat eine andere Sicht, und die Kriterien einer Blutdruckmessung sind uneinheitlich. Daher sitzt ein Patient, den der Kiosk geschickt hat, am Ende in meiner Sprechstunde, obwohl er dort womöglich gar nicht sitzen müsste. Das sind oft unnötige Termine, die am Ende keine therapeutische Konsequenz haben, aber ohnehin knappe Ressourcen der GKV verbrauchen. Der umgekehrte Fall zeigt natürlich noch drastischer das Problem der Zerfaserung der Versorgung, nämlich, wenn der Patient erst gar nicht in meine Praxis geschickt wird, obwohl es notwendig wäre. Der Arzt-Patienten-Bezug ist nicht zu ersetzen und die Basis einer sachgerechten Behandlung. Deshalb muss das Ziel sein, die vorhandenen Strukturen zu sichern und zu stärken, anstatt Parallelstrukturen aufzubauen.
Hat das Primärarztmodell eine Zukunft?
▸▸▸ Richter-Scheer: Wir leben das Primärarztmodell täglich in unseren hausarztzentrierten Verträgen. Für den Patienten bedeutet es Sicherheit. Nach einem Gespräch mit seinem Hausarzt weiß der informierte Patient, ob der Termin beim Kardiologen wirklich notwendig ist. Falls ja, erhält er eine Überweisung mit präziser Fragestellung. Das gibt ihm Orientierung. Der Hausärzteverband Westfalen-Lippe hat die bundesweit drittgrößte Zahl von HZV-Verträgen. In Hessen und Rheinland-Pfalz gehen die Zahlen der Verträge nach oben und in Bayern und Baden-Württemberg ist die HZV ohnehin stark. Der Hausarzt sollte für seine Patientinnen und Patienten die erste Anlaufstelle sowie die koordinierende Instanz sein. Zusammen mit unseren fachärztlichen Kolleginnen und Kollegen stemmen wir so am besten die ambulante Versorgung.
… Und der Hausarzt ist fit für die Primärarztfunktion?
▸▸▸ Richter-Scheer: Ja, der Hausarzt kann diese Funktion wahrnehmen und tut es ja auch schon seit eh und je. Nach meiner Überzeugung hat jeder Hausarzt eine realistische Selbsteinschätzung. Was wichtig ist: Die hausärztliche Medizin muss gestärkt werden, unsere Perspektive muss Berücksichtigung finden. Wir können das!
Können die Hausärzte auch das elektronische Rezept?
▸▸▸ Richter-Scheer: Das elektronische Rezept wird derzeit aufgrund der Datenschutz-Bedenken nicht weitergeführt. Insgesamt muss es auch vereinfacht und besser in die elektronische Patientenakte integriert werden. Im Moment gilt für sämtliche digitale Anwendungen, dass sie nur sehr schwer anzuwenden sind. Das gilt auch für die elektronische Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit. Der Ausdruck geht bislang schneller als der digitale Weg. Es kostet zu viel Zeit, und der nächste Patient wartet schon in der Reihe.
Brauchen Hausärzte überhaupt eine Digitalisierung der Praxisprozesse?
▸▸▸ Richter-Scheer: Ohne Digitalisierung werden wir die Versorgung in der Zukunft nicht mehr so qualitativ hochwertig sichern können wie aktuell. Sie ist alternativlos.
Vielen Dank für das Gespräch!
Autor
Franz-Günter Runkel
betreut als freier Redakteur die Ressorts Berufs- und Gesundheitspolitik sowie Wissenschafts- und Hochschulpolitik.
Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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