
22. August 2022
DEGAM-Erinnerungsprojekt „Das leere Sprechzimmer“
Jüdische Ärzte im Dritten Reich: Die Verantwortung der Täter
"Das leere Sprechzimmer“ ist ein Erinnerungs- und Gedenkprojekt der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Unter Federführung des Berliner Instituts für Allgemeinmedizin erinnerte das Projekt 2021 auf dem Lübecker DEGAM-Kongress in sechs Kurzfilmen an die im Nationalsozialismus verfolgten, vertriebenen und ermordeten jüdischen praktischen Ärztinnen und Ärzte. Beim Kongress 2022 in Greifswald wird es in Teil 2 um die Perspektive der Täter in der „Führerschule“ Alt Rehse gehen.
Am 1. Juni 1935 wurde im mecklenburgischen Dorf Alt Rehse die repräsentative Einrichtung des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSDÄB), die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“, eingeweiht. Diese fungierte bis 1942 als ideologisches Zentrum für die „Gesundheitsführer der Volksgemeinschaft“, der selbst ernannten Elite von Ärzten, Zahnärzten und Apothekern in der NS-Zeit. Es ist der Ort der Täter im Arztkittel. Mehr als 10.000 Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker sowie andere Beschäftigte im Gesundheitswesen durchliefen hier die NS-Kaderschmiede.
Beklemmende Kurzfilme
Dr. med. Sandra Blumenthal ist Sprecherin der DEGAM-Sektion Fortbildung und Drehbuch-Autorin der Filme zum Projekt „Das leere Sprechzimmer“.
Das Projekt „Das leere Sprechzimmer“ wurde von der DEGAM ins Leben gerufen, um an das Schicksal der jüdischen Ärztinnen und Ärzte während der NS-Zeit zu erinnern. Es besteht aus der aufgebauten Sprechzimmer-Szene und sechs Kurzfilmen über Schicksale von Ärzten zu dieser Zeit. Das Drehbuch zu den Kurzfilmen wurde von Dr. med. Sandra Blumenthal konzipiert. Sie ist Sprecherin der DEGAM-Sektion Fortbildung und arbeitet am Institut für Allgemeinmedizin der Berliner Charité.
Das Drehbuch entstand auf Basis des Tagebuches der Berliner jüdischen praktischen Ärztin Hertha Nathorff sowie der medizinhistorischen Arbeiten von Rebecca Schwoch und Judith Hahn. „Hertha Nathorff hatte ihre Praxis in Berlin, war hoch angesehen, emanzipiert und lebte in großbürgerlichen Verhältnissen. Nach ihrer Flucht in die USA hat sie als Pflegerin gearbeitet, um es ihrem Mann zu ermöglichen, das amerikanische Staatsexamen zu machen. Er war dann als Arzt tätig, ist aber sehr früh gestorben. Sie lebte am Ende in ärmlichen Verhältnissen und war sehr verbittert. An ihr ursprüngliches Leben konnte sie bis zu ihrem Tod nie wieder anknüpfen“, erinnert Dr. Blumenthal.
Die Umsetzung der Kurzfilme übernahm die Produktionsfirma TITANFILM.
Am Anfang war eine Idee
„Im Prinzip war immer dieses Gefühl der Lücke da. Die DEGAM wurde in den 1960er-Jahren gegründet und hatte deshalb keinen klassischen Auftrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Wir hatten uns unserer eigenen Geschichte noch nicht gewidmet – daraus entstand die Idee zur Dauer- und Wanderausstellung“, berichtet Sandra Blumenthal. „Das Projekt will Anstöße geben, über die eigene Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus nachzudenken. Das Konzept hatte ich Martin Scherer beim Bier vorgestellt. Er war sofort begeistert und auch das Präsidium stimmte zu.“ Der Lübecker DEGAM-Präsident Prof. Jost Steinhäuser unterstützte die Umsetzung des Projektgedankens auf „seinem“ Kongress.
Pre-Congress-Workshop in Alt Rehse
Im Frühjahr gab es zum Auftakt des zweiten Teils des Projektes einen Workshop mit DESAM-Studierenden, Fachärztinnen und Fachärzten in Weiterbildung und Wissenschaftlern. Für den DEGAM-Kongress in Greifswald ist ein Pre-Conference-Workshop in Alt Rehse geplant, den Kongressbesucher nutzen können, um diese NS-Ideologieschmiede kennenzulernen. „Ein Kongress-Symposium wird die Ergebnisse des Frühjahr-Workshops in Alt Rehse vorstellen. Es wird unter anderem eine Lesung einer DESAM-Medizinstudierenden geben, die ihre Gefühle und Eindrücke in einem schönen Text schildert. Zwei Medizinstudierende haben einen eigenen Podcast über ihre Eindrücke aus Alt Rehse produziert. DEGAM-Mitglied und Alt-Rehse-Förderer Dr. med. Thomas Maibaum wird über den Lehr- und Gedenk- ort Alt Rehse sprechen“, führt Dr. Blumenthal ins Programm ein. Es geht um die Verstrickung der Ärzte in die verbrecherische NS-Ideologie der „Rassenhygiene“ und um Grenzverschiebungen medizinethischer Fragen.
Der Kongress möchte auch ein wenig für Alt Rehse werben, denn der Gedenkort hat mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, weil die Förderung unzureichend ist. Auf dem Kongress, so Dr. Blumenthal, wird es Plakate, Aufkleber und Postkarten geben, die Fragen von damals in die Gegenwart übertragen und zum Nachdenken anregen wollen. 2023 wird der DEGAM-Kongress in Berlin stattfinden. Dann sollen Spaziergänge durch den Berliner Bezirk Schöneberg wieder an die Opfer erinnern: „Wir waren Nachbarn.“
NS-Parolen auf Stolpersteinen
Sind Alt Rehse und die NS-Zeit Geschichte? Leider gehört das NS-Gedankengut noch immer zur deutschen Realität. Zwar gibt es keine zeitgenössischen Berichte jüdischer Allgemeinärzte über Antisemitismus im heutigen Deutschland, aber Anzeichen lassen nichts Gutes ahnen. „In gutbürgerlichen Bezirken wie Berlin-Friedenau haben wir immer wieder Schwierigkeiten mit Stolpersteinen, die mit Nazi-Parolen beschmiert oder einfach übersprüht werden“, erzählt Dr. Blumenthal. In Berlin ist es nicht ohne Risiko, mit einer Kippa offen durch die Stadt zu laufen. Haben wir nichts gelernt?
1933 gab es 8.000 bis 9.000 Hausärzte in Deutschland. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 wurden jüdische und politisch andersdenkende praktische Ärztinnen und Ärzte schrittweise aus ihren Sprechzimmern vertrieben. 1934 waren 2.000 davon bereits nicht mehr als praktische Ärzte tätig. Sie sollten durch sogenannte „arische“, möglichst nationalsozialistisch gesinnte „Jungärzte“ ersetzt werden. Nach 1934 wurden auch verheiratete Hausärztinnen, deren Ehemänner die Familie allein ernähren konnten, sowie jene, die mit jüdischen Menschen verheiratet waren, sukzessive von einer Tätigkeit in der Kassenarztpraxis ausgeschlossen.
Die ärztliche Standesvertretung spielte bei dieser Verdrängung eine maßgebliche Rolle. Praktische Ärztinnen und Ärzte profitierten von der Verfolgung durch freiwerdende Kassensitze, Praxis- und Wohnungseinrichtungen, die zu Schleuderpreisen verfügbar waren. Zwischen 1933 und 1945 wurden sowohl in der ambulanten Versorgung als auch an Universitäten jüdische Ärztinnen und Ärzte systematisch ausgegrenzt, vertrieben, verfolgt und ermordet. Etwa 5.000 bis 6.000 jüdischen praktischen Ärztinnen und Ärzten gelang die Flucht ins Exil.
Autor:
Franz-Günter Runkel
betreut als freier Redakteur die Ressorts Berufs- und Gesundheitspolitik, Wissenschafts- und Hochschulpolitik.
Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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