
22. August 2022
Interview zum kommenden Kongress mit DEGAM-Kongresspräsident Prof. Jean-François Chenot
Patientenzentrierung oder Digitalisierung? Beides!
In der Universitäts- und Hansestadt Greifswald findet der 56. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin statt. Im Interview mit der Zeitschrift „Der Allgemeinarzt“ führt Kongresspräsident Prof. Jean-François Chenot in die Leitthemen ein. Im Mittelpunkt stehen Digitalisierung, Leitlinien, Patientenzentrierung und Klimaschutz. Zum ersten Mal wurde ein DEGAM-Kongress von „atmosfair“ als klimafreundliche Veranstaltung zertifiziert.
Herr Prof. Chenot, was wird das Besondere dieses 56. DEGAM-Kongresses sein?
Prof. Jean-François Chenot: Die Digitalisierung und bessere Nutzung von Daten in der Versorgung waren letztes Jahr das Schwerpunktthema. Mein Ansatz für diesen Kongress ist es, zu zeigen, dass individuelle medizinische Betreuung und Digitalisierung kein Widerspruch sind. Aus meiner Sicht kann die Digitalisierung die patientenzentrierte Versorgung unterstützen. Ein Computer spart Zeit, die dem Patienten zugutekommen kann. In diesen Kontext gehören digitale Gesundheitsanwendungen, die gleichfalls Themen in Kongressbeiträgen sein werden.
Kommt auch die Künstliche Intelligenz im Programm vor?
Chenot: Ja, das ist so. Prof. Tanja Krones ird zu uns kommen und eine Key Lecture zur Rolle der personalisierten Medizin und der Künstlichen Intelligenz in der Praxis von morgen halten. Prof. Krones ist seit 2021 Vorsitzende des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Seit 2017 ist sie Fachverantwortliche für Ethik in der Medizin der Eidgenössisch-Technischen Hochschule der Universität Zürich.
Der Begriff der individualisierten Medizin birgt ein weit verbreitetes Missverständnis. Die Genetiker meinen damit das genetische Profil. Die Allgemeinmedizin meint damit die Berücksichtigung persönlicher Lebensumstände in der Behandlung. Das schließt aber die Nutzung genetischer Informationen ein, um patientenzentriert bessere Entscheidungen in der Therapie treffen zu können. Deshalb ergänzen sich personalisierte Medizin und Künstliche Intelligenz. Das wird Tanja Krones zeigen.
Worüber spricht Carl Rudebeck?
Chenot: Carl Rudebeck ist ein schwedischer Hausarzt, der über die Beziehung als Kernstück der hausärztlichen Arbeit sprechen wird. Sein Thema lautet: „Die Beziehung zum Patienten macht den Hausarzt aus.“ Er hat dazu im Scandinavian Journal of Primary Care publiziert.
Wer wird die Hufeland-Lecture halten?
Chenot: Harald Kamps war lange Hausarzt in Norwegen und hat auch akademisch gearbeitet. Danach wechselte er in ein schwieriges Berliner Viertel und hat dort mit einem sehr hohen sozialen Anspruch praktiziert. Seine Lecture „Spürend denken, verwoben handeln. Skizzen eines allgemeinmedizinischen best account“ wird auch in der Zeitschrift für Allgemeinmedizin erscheinen. Er ist akademisch gar nicht dekoriert, was eine Novität für die Hufeland-Lecture ist.
Gibt es eine weitere Key Lecture im Programm?
Chenot: Dr. Máire Kerrin kommt aus der Psychology Group in Großbritannien und befasst sich mit den besten Kriterien zur Auswahl zukünftiger Hausärzte. Gibt es bestimmte Charaktereigenschaften und messbare Kriterien für einen guten Hausarzt? Das ist ein brennendes Problem in der Allgemeinmedizin. Überall gibt es Landarztprogramme zur Nachwuchsgewinnung und die Frage nach dem besten Weg zum guten Allgemeinarzt war schon beim vergangenen DEGAM-Kongress in Lübeck wichtig. Máire Kerrin wird sich mit Auswahlprozessen während Studium und Weiterbildung befassen, um die besten Allgemeinärzte für die Versorgung zu finden.
Was wird das Symposium „Neues aus der DEGAM-Leitlinienarbeit 2022“ bieten?
Chenot: Die DEGAM hat einen großen Erfolg erzielt. In der letzten Leitlinien-Ausschreibung des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hat die DEGAM fünf Förderungen für neue Leitlinien und Updates erhalten. In der Kommission werden Leitlinien für die DEGAM in Kooperation mit Instituten für Allgemeinmedizin nach einem methodisch strukturierten Verfahren erarbeitet.
Welche Leitlinien-News wird der Kongress präsentieren?
Chenot: Es wird um ein Update der S3-Leitlinie „Nicht-dialysepflichtige chronische Nierenerkrankung (CKD) in der Hausarztpraxis“ gehen. Eine weitere S3-Leitlinie widmet sich dem Umgang mit Suizidalität. Wir stellen die S3-Leitlinie „Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention“ vor und erläutern ein interprofessionelles, digitales Upgrade der DEGAM-S1-Handlungsempfehlung „Nackenschmerzen“ auf S3-Niveau.
Außerdem werden wir uns auch mit der Aktualisierung und Umwandlung der DEGAM-Leitlinie „Multimorbidität“ in eine „Living Guideline“ beschäftigen. Schließlich steht auch die Neuentwicklung der S3-Leitlinie „Schilddrüsenknoten bei Erwachsenen. Empfehlungen zu Prävention, Diagnostik und Therapie in der hausärztlichen Versorgung“ auf dem Programm.
Wie wird der Beitrag Ihres Instituts zur Leitlinien-Diskussion aussehen?
Chenot: Mein Institut hat eine Förderung des Innovationsfonds für ein Qualitätsindikatoren-Set in der Versorgung von Patienten mit Nierenerkrankungen bewilligt bekommen. Wir werden das auf dem Greifswalder Kongress vorstellen.
Leitlinien werden ein wichtiges Kongressthema sein. Gleichzeitig bedeutet aber Patientenzentrierung, dass es in der individuellen Behandlung Abweichungen von der Leitlinie geben kann und muss. Es ist immer eine Gratwanderung zwischen Individualisierung und Standardisierung. Dieser Gedanke spielt auch in der Digitalisierung eine bedeutende Rolle.
Der Kongress wird von atmosfair zertifiziert ...
Chenot: Der Kongress ist von atmosfair als klimafreundliche Veranstaltung zertifiziert. Alle Teilnehmer sind aufgefordert, mit dem Zug anzureisen. Alle Veranstaltungsorte des Kongresses sind vom Bahnhof aus gut zu Fuß zu erreichen. Greifswald ist eine sehenswerte Stadt, die einen Besuch lohnt. Zum Teil werden Veranstaltungen in renovierten Vorlesungssälen aus dem 19. Jahrhundert stattfinden, die dem Kongress einen ganz eigenen Charme geben werden. Die Küche in der Universität hat etwas Fleisch auf dem Speiseplan, wird aber überwiegend vegetarisch sein. Wir erwarten rund 600 Kongressteilnehmer. Leider hat der Hausärzteverband seine Delegiertenversammlung am Freitag, sodass einige Teilnehmer wohl erst am Samstag anreisen werden.
Gibt es im Programm Vorträge zum Klimaschutz?
Chenot: Ja, der Klimaschutz wird sich in vielen Kongressbeiträgen wiederfinden. Es wird mehrere Workshops zu Themen wie Klimaschutz in der Praxis, Klima-Sprechstunde etc. geben. „Green DEGAM“ wird ein Markenzeichen des Kongresses sein.
Welche Idee der Patientenzentrierung wird der Kongress vorstellen?
Chenot: Dazu wird es mehrere Workshops und Beiträge geben. Ein wichtiges Thema wird die Priorisierung von Behandlungen bei multimorbiden Patienten sein. Wir müssen nicht alle Erkrankungen behandeln. Bei kardiologischen Patienten ist es z.B. möglich, die Medikation zu begrenzen. Nephrologische Fälle werfen die Frage auf, ob der Facharzt konsultiert werden muss.
Es geht um individualisierte Entscheidungen, bei denen uns Leitlinien nur begrenzt helfen. In den Workshops geht es darum, Patientenbedürfnisse besser zu erfassen. Die Edukation von Patienten ist ebenfalls wichtig, um im Rahmen einer patientenzentrierten Versorgung mitwirken zu können. Übrigens: Wir haben insgesamt mehr als 50 Workshop-Einreichungen.
Wie wollen Sie Gesundheitswissen vermitteln?
Chenot: Patienten sollen an ihrer Versorgung beteiligt sein. Wenn Patienten ihre Therapie verstehen, können sie besser mitarbeiten. „Patient Empowerment“ ist ein wichtiges Thema der öffentlichen Diskussion und auf dem Kongress. Verständliche Erklärungen und gute schriftliche Informationen sind dabei entscheidend. Der Kongress wird das thematisieren. Es geht auch hier wieder um Digitalisierung z.B. im Medikationsplan. Patienten-Edukation und partizipative Entscheidungsfindung gehören zusammen.
Gibt es eine berufspolitische Botschaft des Kongresses?
Chenot: In Deutschland wird immer deutlicher, dass die Struktur der Gesundheitsversorgung nicht optimal ist. Das bestehende KV-System kann sich durchaus dahin entwickeln, Primärarzt-freundlich zu werden und ungünstige Fehlanreize zu reduzieren. In Frankreich zum Beispiel ist jeder Patient gehalten, seinen behandelnden Arzt zu wählen. Er kann jeder Fachrichtung angehören, aber die Wahl der meisten Patienten fiel auf einen Hausarzt. Für Deutschland stelle ich mir eine stärkere Koordination durch einen behandelnden Arzt vor. Es geht nicht um die Einschränkung der Wahlfreiheit, sondern um eine aufeinander abgestimmte Versorgung. Verantwortung, Zuständigkeit und Überblick müssen stärker im Gesundheitssystem implementiert werden. Das kann die Ressourcen schonen und die Versorgung verbessern.
Das Interview führte Franz-Günter Runkel
56. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM
15. – 17. September 2022 in Greifswald Die Themenschwerpunkte:
Zwischen Individualisierung und Standardisierung
Gesundheitswissen vermitteln
Partizipative Entscheidungsfindung
Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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