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24. Oktober 2022

56. DEGAM-Kongress in Greifswald

Patientenzentrierung ist Leitbild der modernen Allgemeinmedizin

Der 56. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) lockte rund 700 Teilnehmer in die Universitäts- und Hansestadt Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern. Mehr als 300 Kongressbeiträge spiegelten die Bandbreite der modernen Allgemeinmedizin wider. Zentrale Themen waren Patientenzentrierung, Digitalisierung, Leitlinienarbeit und Klimaschutz. Green-DEGAM war ein Markenzeichen des atmosfair-zertifizierten Kongresses. 2023 werden sich die Allgemeinärzte in Berlin treffen.

Getreu dem Kongressmotto „Patientenzentrierte Versorgung – die Hausarztpraxis im Zentrum der Versorgung“ erklärte DEGAM-Kongresspräsident Prof. Dr. med. Jean-François Chenot, Direktor der Abteilung Allgemeinmedizin, Universitätsmedizin Greifswald, zum Auftakt: „Die Patientenzentrierung ist zentral wichtig für die Hausarzt- und eigentlich für jede Art von Medizin – und damit einer der Schwerpunkte unseres Kongresses.“

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Abb. 1: DEGAM-Kongresspräsident Prof. Dr. med. Jean-François Chenot (l.) und DEGAM-Präsident Prof. Dr. med. Martin Scherer präsentierten die Kongressthemen vor der Presse.

Partizipative Entscheidungsfindung

Patientenzentrierte Versorgung kommt nicht ohne partizipative Entscheidungsfindung aus. „Es gibt immer eine Asymmetrie zwischen Arzt und Patient. Natürlich verfügt der Arzt über erheblich mehr Informationen, aber es geht darum, die Menschen zur Entscheidung über die eigene Gesundheit zu befähigen“, unterstrich Prof. Chenot. Der Patient solle informiert an der Entscheidung mitwirken. Der Unterschied zwischen der paternalistischen Fremdbestimmung und der partizipativen Entscheidungsfindung sei das informierte Vertrauen.

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Abb. 2: In der Greifswalder Universitätsmedizin fand der 56. DEGAM-Kongress mit rund 700 Teilnehmern und 300 Beiträgen statt.

Primärärztliche Versorgung

„Wir stehen vor großen Herausforderungen, die Versorgungsprobleme werden immer komplexer, die Zahl der chronisch Kranken und Multimorbiden steigt. Das führt in einem Land, in dem die Mehrheit der Ärzte Organspezialisten sind, zu einem erhöhten Bedarf an Generalisten mit den Schwerpunkten Langzeitversorgung, Koordination und Integration“, unterstrich Prof. Chenot. Die zur Verfügung stehende Arbeitskraft werde trotz der Erfolge bei der Weiterbildung von Hausärzten abnehmen, auch medizinische Fachangestellte würden eine zunehmend wertvolle und limitierte Ressource. Der Mangel an medizinischen Fachkräften mache deutlich, dass das Gesundheitssystem mit den Ressourcen bei steigendem Bedarf rational haushalten müsse. „Patientenzentrierung bedeutet in dieser Hinsicht ein nachhaltiges Vertrauensverhältnis zwischen Allgemeinarzt und Patient. Ein Primärarztsystem bietet Effizienz und qualitätsgesicherte Allgemeinmedizin. Der Hausarzt nimmt eine Koordinierungsfunktion zum sparsamen Umgang mit den finanziellen Ressourcen wahr“, so Prof. Chenot.

Leitlinienarbeit ist Königsdisziplin der DEGAM

Einen hohen Stellenwert bei den DEGAM-Jahreskongressen haben die Kongressbeiträge zur Leitlinienarbeit. „Es ist eine der zentralen Aufgaben der DEGAM, die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis in der Allgemeinmedizin zu stärken – auch mit unserem Jahreskongress. Die letzten Jahre haben uns gezeigt, dass es auf dem Kongress sehr gut gelingt, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den allgemeinmedizinischen Instituten mit den praktisch tätigen Hausärztinnen und Hausärzten miteinander ins Gespräch kommen und eine gemeinsame Sprache entwickeln“, betonte Prof. Dr. med. Martin Scherer, Präsident der DEGAM.

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Abb. 3: Die Deutsche Stiftung für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DESAM) informierte auf dem Kongress der Muttergesellschaft über ihre Aktivitäten. Links im Bild: Prof. Ferdinand M. Gerlach, Vorsitzender der DESAM.

Kongresspräsident Chenot zeigte sich stolz auf ein spezielles Leitlinien-Symposium im Kongress-Programm. Updates und Neuentwicklungen allgemeinärztlicher Leitlinien standen im Mittelpunkt. „Mein Institut hat eine Förderung des Innovationsfonds für ein Qualitätsindikatoren-Set in der Versorgung von Patienten mit Nierenerkrankungen bewilligt erhalten. Insgesamt fördert der Innovationsausschuss fünf Leitlinien der DEGAM. Das ist eine tolle Anerkennung der Arbeit unserer Fachgesellschaft“, freute sich Chenot. Auf dem Weg zu hochwertigen Leitlinien für hochwertige Versorgung in der Hausarzt-Praxis müssten Wege der Professionalisierung in der Leitlinienarbeit gefunden werden. „Handgestrickte Leitlinien sind heute nicht mehr möglich.“

Wie DEGAM-Präsident Prof. Scherer ergänzte, sind Leitlinien indes keine finanziellen Selbstläufer. Obwohl das Update der S3-Leitlinie „Nicht dialysepflichtige chronische Nierenerkrankung“ über knapp drei Jahre mit 200.000 Euro Förderungsmitteln des Innovationsausschusses finanziert werde, sei das weit entfernt von einer Kostendeckung. So muss und will auch die DEGAM investieren.

Qualitätsgesicherte Leitlinien sind der Schlüssel zum Erfolg

Im Arbeitsalltag von Allgemeinärzten müssten regelmäßige Wissens-Updates eingepreist sein. Für Fortschritte in der Medizin werden nach Darstellung Prof. Chenots qualitätsgesicherte Leitlinien immer wichtiger; damit aber wird auch die Rolle der DEGAM immer wichtiger. „Ich habe z.B. gerade Geld für Filme beantragt, um die Inhalte der Leitlinien den Allgemeinärzten gut vermitteln zu können. Es ist eine wichtige Aufgabe der Fachgesellschaft, dafür zu sorgen, dass alle in die Welt des medizinischen Fortschritts mitgenommen werden. Das Modell der Fortbildung am Wochenende ist weder familien- noch zukunftstauglich.“

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Abb. 4: Trotz kühlen Wetters nutzten die Teilnehmer die Pausen für Mahlzeiten und entspannte Gespräche im Freien.

Am Ende geht es in der Leitlinienarbeit um die Qualität in der allgemeinärztlichen Breite. Die Tiefe des diagnostischen Prozesses in der hausärztlichen Praxis sei individuellen Schwankungen unterworfen. Jeder Allgemeinarzt habe individuelle Schwerpunkte, so DEGAM-Präsident Scherer. Trotz dieser Heterogenität sei die primärärztliche Abklärung unspezifischer Symptome eine wichtige Basis für eine funktionierende Primärversorgung.

Notwendige Symbiose von Patientenzentrierung und Digitalisierung

Auch die Digitalisierung war prominent im Kongressprogramm verankert: „Wir werden in den nächsten Jahren mit weniger personellen Ressourcen mehr und vor allem komplexer kranke Menschen in der hausärztlichen Praxis versorgen. Für dieses Spannungsfeld müssen wir kluge digitale Lösungen entwickeln“, forderte Chenot. Der DEGAM-Kongress stellte unter Beweis, dass Digitalisierung und Patientenzentrierung keine Gegensätze sein müssen. Beides müsse gelingen und könne einander sehr gut ergänzen.

Autor
Franz-Günter Runkel
Betreut als freier Redakteur die Berufs- und Gesundheitspolitik sowie die Wissenschafts- und Hochschulpolitik


Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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