
22. März 2021
CoronaVirus-Pandemie
Spiritualität unter der Maske?
Die Fähigkeit, mit Ungewissheit umzugehen, gehört zur Gesundheit und zur Krankheitsverarbeitung, z.B. in der Zeit des Wartens auf die Mitteilung eines schwerwiegenden Befundes. Die Begleitung der individuellen Ungewissheits-(In-)Toleranz und des individuellen Copings ist ärztliche Routine.
Neu ist die „pandemische“ Erfahrung kollektiver Ungewissheit, die sowohl Patienten als auch Ärzte fest im Griff hat. Ängstliche Übervorsicht und Verschwörungstheorien, COVID-19-Erkrankungen und unbekümmertes Lebensgefühl stehen nebeneinander.
Die Metapher der Infektions-„Wellen“ drückt einen weitgehend ungewissen Verlauf aus, dessen Abschluss (kausale Therapie, Impfung, Immunität) unklar ist. Die allgegenwärtige Maske soll sowohl die eigene Person vor einer ungewissen Infektionsquelle schützen als auch andere Menschen vor mir selbst als möglichem Überträger. Persönliche, wissenschaftliche und politische Einschätzungen der Maske haben sich mehrfach gewandelt. Unverändert durch Wellen und Täler des Infektionsgeschehens drückt die Maske den kollektiven Risikostatus aus und damit die allgegenwärtige existenzielle Bedrohung. „Existenziell“ nennen wir die Gefährdung von Wirtschaftsunternehmen, aber auch die persönliche Grenzsituation, die durch eine Erkrankung entstehen kann.
Wenn die Maske und andere Sicherheitsmaßnahmen versagen, tauchen Fragen nach dem Warum und nach dem Sinn auf. In solchen Situationen kann eine spirituelle Anamnese hilfreich sein, die mit den Fragen eingeleitet wird: „Woraus schöpfen Sie Kraft? Im weitesten Sinne des Wortes: Sind Sie ein gläubiger Mensch?“
Durch die spirituelle Anamnese beseitigt der Arzt nicht die existenzielle Bedrohung, gibt keine stellvertretenden oder gar vertröstenden Antworten in der Situation der Ungewissheit. Aber der kranke oder auch nur besorgte Mensch wird auf die eigenen Ressourcen hingewiesen, auf persönliche oder mit anderen Menschen geteilte Sinndeutungen, die unter der Maske sozialer Angepasstheit verborgen sind.
Autor:
Prof. Dr. med. Eckhard Frick
Forschungsstelle Spiritual CareKlinik und
Poliklinik für Psychosomatische Medizin und
PsychotherapieKlinikum rechts der Isar der
Technischen Universität München
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