
1. Juni 2023
15 Jahre Hausarztzentrierte Versorgung
Der Teampraxis gehört die Zukunft
Über die Zukunft der hausarztzentrierten ambulanten Medizin sprach „Der Allgemeinarzt“ mit Prof. Dr. med. Nicola Buhlinger-Göpfarth, erste stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbands und Vorsitzende des Hausärzteverbands Baden-Württemberg, sowie mit der Co-Vorsitzenden Dr. med. Susanne Bublitz. Im Mittelpunkt standen das Jubiläum „15 Jahre HzV“, das Modell der Teampraxis, die akademisierten Gesundheitsberufe und die Zumutungen der Notdienstreform.
Frau Buhlinger-Göpfarth, Frau Bublitz: 15 Jahre Hausarztzentrierte Versorgung – wie geht es weiter?
▸▸▸ Buhlinger-Göpfarth: Im Mai wurde die Hausarztzentrierte Versorgung (HzV) 15 Jahre alt. Dies werden wir zum Anlass nehmen, um gemeinsam mit den Vertragspartnern des HzV-Vertrags, mit der AOK Baden-Württemberg, in den Austausch mit dem Bundesgesundheitsministerium zu gehen. Wir werden die hervorragenden Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung der HzV vorstellen, die ganz klar zeigen, dass die Patientinnen und Patienten in der HzV besser versorgt sind als in der Regelversorgung. Wir möchten den Geburtstag aber auch nutzen, um der HzV ein Upgrade zu geben. Das Konzept der Teampraxis ist eine Weiterentwicklung der bereits adressierten Delegationsverfahren. Die Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis (VERAH) gibt es ja schon länger. Wir haben dieses Konzept weitergedacht und die akademisierte VERAH konzipiert. Es geht darum, die immer knapper werdende Ressource Hausarzt zu schonen und den Versorgungsdruck zum Beispiel durch die zielgerichtete Delegation an akademisierte Gesundheitsberufe zu lindern.
▸▸▸ Bublitz: Es gibt keine Alternative zur HzV, weil wir die Versorgung steuern müssen, wenn sie weiter finanzierbar bleiben soll. Die ungesteuerte Beanspruchung des gesamten Gesundheitssystems hat keine Zukunft. Ich bin optimistisch, dass die Bedeutung der HzV zunehmen wird – einfach, weil es nicht anders gehen wird.
Was ändert sich im Jubiläumsjahr in der HzV?
▸▸▸Buhlinger-Göpfarth: Bereits ab dem 1. Oktober gibt es im HzV-Vertrag mit der AOK Baden-Württemberg einen Zuschlag für akademisierte Gesundheitsberufe wie eben die akademisierte VERAH. Dies ist ein wichtiger Schritt Richtung Teampraxis. Ab dem 1. Juli wird es Stipendien für die Ausbildung von Physician Assistants und akademisierten VERAHs geben. Zusätzlich wird der VERAH-Zuschlag von fünf auf zehn Euro erhöht. In Baden-Württemberg ist es gelungen, 2,5 Millionen Patientinnen und Patienten oder gut ein Viertel der Versicherten in die HzV einzuschreiben.
▸▸▸ Bublitz: Ab dem 1. Oktober wird es außerdem einen Zuschlag für klimaresiliente Versorgung geben. Die nachhaltige Versorgung ist ein Zukunftsthema, bei dem es darum geht, den Klimaschutz als Gesundheitsschutz zu begreifen. Wir haben deshalb mit der AOK Baden-Württemberg einen Klimazuschlag für geschulte Praxen vereinbart, die das Wissen an ihre Patienten weitergeben und in die Behandlung von chronisch Kranken einfließen lassen sollen. Dazu zählen zum Beispiel die Anpassung von Medikamenten an die Temperatur oder auch spezielle Hitzeschutz-Pläne für die Patienten.
Was ist neu in der Teampraxis im Rahmen der HzV?
▸▸▸ Buhlinger-Göpfarth: Der Allgemeinarzt oder die Allgemeinärztin muss und kann nicht jede Leistung persönlich erbringen. Wir müssen Wege finden, um den Workload in der Praxis auf mehr Schultern zu verteilen. An vielen Stellen arbeiten wir heute wie vor hundert Jahren und sind einem immer höheren Versorgungsdruck ausgesetzt. Das kann nicht so weitergehen. Vielleicht gibt es bald nur noch drei Minuten Beratungszeit pro Patienten. Das ist weder gut für den Arzt noch für den Patienten. Komplexe Beratungsanlässe brauchen Zeit. Weniger komplexe Indikationen können im Teamwork bearbeitet werden. Algorithmen-gestützte Checklisten können vom Praxisteam vorbereitet werden.
▸▸▸ Bublitz: Delegation ist notwendig und sinnvoll. So können wir in der Hausarztpraxis die Versorgung unter einem Dach, ohne Schnittstellen zwischen Berufsgruppen und mit einer gemeinsamen Kommunikation, leisten.
Also ist die Einzelpraxis bald tot?
▸▸▸ Buhlinger-Göpfarth: Nein, absolut nicht. Einzelpraxen wird es weiterhin geben. Die Zahlen der Apo-Bank zeigen ja, dass die meisten hausärztlichen Praxen immer noch Einzelpraxen sind. Aber: Die wenigsten Gründerinnen und Gründer beenden ihre Praxistätigkeit als Einzelpraxis. Und auch Einzelpraxen können von der akademisierten VERAH profitieren. Gerade ältere Kolleginnen und Kollegen wollen kein Medizinisches Versorgungszentrum mehr gründen, haben aber durchaus Verwendung für eine akademisierte VERAH.
▸▸▸ Bublitz: Es ist ja schon heute schwer, einen Allgemeinarzt aufs Land zu holen. Wie will man dann gleich mehrere anlocken? Hier bietet das Teampraxis-Modell mit einem Allgemeinarzt oder einer Allgemeinärztin sowie ergänzenden VERAHs und PAs eine echte Perspektive und Entlastung.
Was unterscheidet einen Physician Assistant (PA) von einer VERAH?
▸▸▸ Buhlinger-Göpfarth: Da sehe ich keine große Abstufung. VERAHs sind in der Regel Eigengewächse der Praxen, während PAs oft unabhängig und mehrheitlich für das Krankenhaus ausgebildet werden. Die Studiengänge werden aber inzwischen auch hier deutlich praxisbezogener, und generell werden alle Fachkräfte mit entsprechender Qualifikation in der Teampraxis gebraucht.
Dr. med. Susanne Bublitz, Co-Vorsitzende des Hausärzteverbands Baden-Württemberg: „Es gibt keine Alternative zur HzV, weil wir die Versorgung steuern müssen, wenn sie weiter finanzierbar bleiben soll. Die ungesteuerte Beanspruchung des gesamten Gesundheitssystems hat keine Zukunft.“
4.500 bis 5.000 Euro pro Monat. Ist das bezahlbar?
▸▸▸ Buhlinger-Göpfarth: Wenn dafür die Ärztin oder der Arzt von Bürokratie und delegierbaren medizinischen Aufgaben entlastet wird, ist dies gut investiertes Geld. Es wird nicht anders gehen.
Wird die HzV bundesweit stärker?
▸▸▸ Buhlinger-Göpfarth: Die Politik sollte sich überlegen, ob sie angesichts knapper finanzieller und personeller Ressourcen eine Steuerung der Patientenströme in der HzV möchte. Das können wir liefern. Ein dichtes flächendeckendes HzV-Netz bedeutet weniger ungesteuerte Facharzttermine und eine effektivere Versorgung. Die Frage ist nur: Ist der politische Wille stark genug, mit uns den Weg der HzV zu gehen?
Hilft die HzV auch gegen den Landarztmangel?
▸▸▸ Buhlinger-Göpfarth: Ja, absolut! Die HzV wertet die hausärztliche Versorgung auf und macht sie attraktiver. Gerade junge Allgemeinärztinnen und Allgemeinärzte legen viel Wert auf Work-Life-Balance und fordern die Arbeit im Team.
▸▸▸ Bublitz: Dies gilt nicht nur für das Land, auch in der Stadt bietet die HzV bessere Chancen, den Nachwuchs in die Hausarztpraxis zu locken.
Und die älteren Allgemeinärztinnen und Allgemeinärzte?
▸▸▸ Buhlinger-Göpfarth: Dass die HzV für alle Hausärztinnen und Hausärzte überzeugend ist, zeigen die Zahlen bei uns in Baden-Württemberg. Die Mehrheit der aktiven Hausärztinnen und Hausärzte setzt die HzV um. Was die Arbeit in der Teampraxis betrifft, fällt es manchen schwer, sich auf das Neue einzurichten. Verantwortung und Arbeit verteilen sich im Team, aber deshalb mindert es ja auch die Last.
Der Verband tat sich zeitweise schwer mit den Physician Assistants …
▸▸▸ Buhlinger-Göpfarth: Ich spüre zunehmend, dass das große Entlastungspotential, das die Versorgung im Team bietet, gesehen wird. Wir schaffen es nicht mehr mit den traditionellen Konzepten. Wir schaffen die Arbeit allein nicht mehr und wir haben unter diesen Arbeitsbedingungen nicht mehr genügend Nachwuchs. Wir müssen den Beruf attraktiv halten. Als Verband müssen wir Antworten auf veränderte Wünsche und Arbeitsbedingungen finden. Der PA ist eine davon!
Prof. Dr. med. Nicola Buhlinger-Göpfarth, erste stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbands und Vorsitzende des Hausärzteverbands Baden-Württemberg: „Wir haben den Geburtstag auch genutzt, um der HzV ein Upgrade zu geben. Das Konzept der Teampraxis ist eine Weiterentwicklung der bereits adressierten Delegationsverfahren.“
Wie passen HzV und Klimapraxis zusammen?
▸▸▸ Bublitz: Hervorragend! Als Hausärzteverband Baden-Württemberg haben wir das Konzept der nachhaltigen Hausarztpraxis ins Leben gerufen, nach dem sich Praxen in Selbstauskunft für Nachhaltigkeit und Klimabewusstsein auszeichnen lassen können. Dies beinhaltet auch die Nachhaltigkeit im Teambereich, also im sozialen Umgang mit den Mitarbeitern. Konkret geht es zum Beispiel um Job-Tickets oder Job-E-Bikes für Mitarbeiter. Die zweite Säule sind Schulungen für das Praxisteam, um Ernährungs- und Gesundheitswissen an Patienten weiterzugeben. Dazu gehören auch Sportangebote oder Infos über Videosprechstunden, um zum Beispiel Fahrten mit dem Auto zu reduzieren. Bei Sommerhitze benötigen manche Patienten vielleicht einen vorbeugenden Hausbesuch.
Würde eine Entbudgetierung der Hausärzte dem HzV-Vergütungsmodell schaden?
▸▸▸ Buhlinger-Göpfarth: Da mache ich mir keine großen Sorgen. Solange es keine grundlegende Reform des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs gibt, wird sich das nicht nachteilig auf die HzV auswirken. Grundsätzlich ist es ja zu begrüßen, wenn die Politik erkannt hat, dass hausärztliche Leistungen vernünftig honoriert werden müssen.
Schafft die Teampraxis auch den Notdienst?
▸▸▸ Buhlinger-Göpfarth: Mit der HzV kann man eigentlich alles schneller und besser umsetzen als mit regulären EBM-Honoraren. Das ändert aber nichts daran, dass die Vorschläge der Regierungskommission für teilweise 24/7-Schichten ohne jede Beteiligung der Allgemeinärzte ersonnen wurden. Trotzdem sind wir es, die dieses Notdienstkonzept am Ende umsetzen sollen. Wir sollen es richten, aber die Regeln legen andere fest. Das geht nicht!
▸▸▸ Bublitz: Über die Finanzierung muss man gar nicht nachdenken, denn die Hausärzte können diese 24/7-Bereitschaft gemeinsam mit Chirurgen und anderen Fachgruppen gar nicht umsetzen. Pflichtdienste in Zeiten der Regelversorgung sind nicht möglich. Wer versorgt denn dann meine Praxispatienten? Das ist nicht zu Ende gedacht. Diese Notdienstreform wird schon im Ansatz scheitern.
Wer zahlt am Ende die Rechnung?
▸▸▸ Bublitz: Am Ende sollen diese Level-1-Krankenhäuser auch noch von der KV bezahlt werden. Das alles wird weder organisatorisch noch finanziell funktionieren. Das wird den Personalmangel auf dem Land weiter verschärfen, weil niemand diese Tätigkeiten mit viel Arbeitslast und schlechter Bezahlung machen will und kann. Wie in der Schweiz brauchen wir ein Ticketsystem, damit niemand den Notdienst ohne eine telefonische Vorbewertung und Triagierung in die geeignete Versorgungsebene in Anspruch nehmen kann. Wenn ein Patient nicht über das Ticketsystem kommt, muss man auch über Behandlungsgebühren reden.
Autor
Franz-Günter Runkel
betreut als freier Redakteur die Ressorts Berufs- und Gesundheitspolitik, Wissenschafts- und Hochschulpolitik.
Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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