8. Februar 2022
Aufklärungsarbeit zu HIV als Vorbild in der COVID-19-Pandemie
„Tina, was kosten die Kondome ...?“
Nun ist sie also in Vorbereitung – die allgemeine Impfpflicht. Während sich Bundeskanzler Olaf Scholz selbstsicher gibt, verzichtet der neue Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nach seinem Vorpreschen nun doch auf einen eigenen Gesetzesantrag. Man möchte neutral bleiben. Und in den hausärztlichen Praxen? Machen sich die Ersten Gedanken, wie sie mit der Impfung Impfunwilliger umgehen wollen – andere sind froh, die kräftezehrenden Diskussionen im Vorfeld der Impfung bald los zu sein. Die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht darf jedoch nicht der Verzicht auf Überzeugungsarbeit sein. Sie ist Schlüssel und zugleich Schloss bei der Pandemiebekämpfung, auch über den Winter hinaus.
„Die öffentliche Ordnung beruht auf Zustimmung“, so der französische Soziologe und Philosoph Pierre Bourdieu (1930–2002) in seinen Vorlesungen über den Staat zu Beginn der 1990er-Jahre. Schließlich könne man nicht jede Ampel von einer Polizistin bewachen lassen. Es brauche einen breiten gesellschaftlichen Konsens, sie nicht bei Rot zu überqueren. Neben Bußgeldern und Blitzern gibt es daher unterschiedliche Interventionen, um diesen Konsens herzustellen: Unsere Kinder machen einen Fahrradführerschein in der vierten Klasse, in die Kindergärten kommt zum Thema Verkehrssicherheit die Polizei – und viel später durchlaufen wir Fahrschulen mit Verkehrsregeln zu unterschiedlichen Fahrzeugklassen.
Menschen vertrauen ihren Hausärztinnen und Hausärzten, was uns zum Rückgrat der Pandemiebekämpfung gemacht hat. Der niedrigschwellige Zugang zu unseren Praxen, die Kompetenz beim Aufbau einer suffizienten Impfinfrastruktur, vor allem aber das Vertrauen in unsere persönliche Einschätzung der uns langjährig Anvertrauten – erst das kurbelte den Impfturbo wirklich an. Doch nun benötigen wir politische Unterstützung. Die Einführung einer Impfpflicht darf keinesfalls davon entbinden, um Zustimmung zu werben. Es genügt nicht, ein Gesetz zur Impfpflicht vorzubereiten, parallel bedarf es der Vorbereitung einer ambitionierten, gut finanzierten Kampagne, die weiterhin um das Einverständnis von Menschen wirbt.
Eine adäquate Gesundheitskompetenz ist der beste Schutz in einer Pandemie – und nicht nur da! Die WHO hat die Zurückhaltung gegenüber Impfstoffen gegen vermeidbare Infektionskrankheiten bereits vor der Pandemie als größte Bedrohung unserer globalen Gesundheit identifiziert. Um Miss- und Fehlinformation zu bekämpfen, die die Gesundheitskompetenz und damit die Gesundheit unserer Bevölkerung gefährdet, sollten wir dieselbe Akribie an den Tag legen, die wir der Auswertung von Studien zur Effektivität der Impfung oder dem Tragen von Masken widmen. In der HIV-Pandemie hat Deutschland gute Erfahrung mit einer aufsuchenden Aufklärungsarbeit und deren Unterstützung durch Menschen aus Risikogruppen gemacht. Mir persönlich fehlen solche Ansätze in der aktuellen Pandemiebewältigung. In Studien zur Impfskepsis zeigte sich ein hoher Effekt der Aufklärungsarbeit im direkten und persönlichen Austausch mit Ärztinnen und Ärzten beispielsweise in Social-Media-Formaten. Solche Initiativen sind in der „Corona“-Pandemie jedoch häufig selbstorganisiert und gehen auf engagierte Einzelpersonen zurück. Der erfolgreiche NDR-Podcast von Christian Drosten und Sandra Ciesek, der patientenverständlich gestaltet ist, ist ein prominentes Beispiel hierfür. Doch wir brauchen mehr davon.
In den Praxen extrapolieren wir auf die Anliegen von Einzelpersonen. Neben den Impfungen gilt es jedoch auch noch Menschen mit Diabetes mellitus, Rhinosinusitis, Erschöpfungssyndrom und COPD zu versorgen. Es braucht – Pflicht hin oder her – weiterhin kreative Ansätze, um Menschen vom Nutzen der Impfung zu überzeugen. Hier brauchen wir Unterstützung, die das Potential in sich trägt, eine Impfpflicht überflüssig zu machen! Hausärztinnen und Hausärzte, die wie keine zweite Berufsgruppe Stimmungen, Sorgen und Ängste aus ihrer Arbeit an der vordersten Front der Pandemiebekämpfung kennen, sind ideale Ratgebende für eine solche Kampagne. Die Besetzung des beratenden Expertenrates im BMG ohne eine einzige Hausärztin ist auch unter diesem Aspekt – reden wir nicht lange drum herum – ein Fehler.
Autorin
Dr. med. Sandra Blumenthal
Fachärztin für Allgemeinmedizin, Kompetenzzentrum Weiterbildung, Institut für Allgemeinmedizin, Charité Universitätsmedizin Berlin, Sprecherin der Sektion Fortbildung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)
Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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