
3. Oktober 2022
Schwangerschaft und Diabetes
Was tun bei Gestationsdiabetes?
Gestationsdiabetes mellitus (GDM) gehört mit einer Prävalenz von rund 8% in Europa zu den häufigsten Schwangerschaftskomplikationen.1 Das sind in Deutschland derzeit 55.000 bis 60.000 Fälle pro Jahr.
GDM ist eine Glukosetoleranzstörung, die erstmals in der Schwangerschaft nach einem positiven Vortest (50g Glukose, nicht nüchtern) im Zeitfenster 24+0 bis 27+6 Schwangerschaftswochen (SSW) mit einem 75g oralen Glukosetoleranztest (oGTT) unter standardisierten Bedingungen und qualitätsgesicherter Glukosemessung aus venösem Plasma diagnostiziert wird.2
GDM verläuft asymptomatisch. Die Blutglukosewerte erreichen nicht das Niveau des manifesten Diabetes mellitus. Einer der drei folgenden Werte muss erreicht bzw. überschritten sein, um die GDM-Diagnose zu bestätigen:
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nüchtern: 92–125mg/dl (5,1–6,9mmol/l)
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nach 1h: >180mg/dl (10,0mmol/l)
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nach 2h: 153–199mg/dl (8,5–11,05mmol/l)
Screening, Diagnostik und Betreuung werden in erster Linie von frauenärztlichen Praxen, Diabetes-Schwerpunktpraxen und Geburtskliniken übernommen. GDM gilt heute funktionell als Vorstufe eines Typ-2-Diabetes mellitus (T2DM) und ist assoziiert mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko. Im Median acht Jahre nach der Geburt wird bei Frauen nach GDM zehnmal häufiger ein T2DM und zehn Jahre nach der Geburt doppelt so häufig ein Herzinfarkt oder Schlaganfall registriert als bei Frauen, die in der Schwangerschaft eine normale Glukosetoleranz hatten.3,4
Wichtige Rolle der hausärztlichen Betreuung
Viele Frauen mit späterem GDM gehen bereits mit erhöhten Risiken in eine Schwangerschaft, etwa einer Adipositas. An der erforderlichen Nachsorge nach GDM haben in den letzten Jahren maximal 45% der Frauen teilgenommen. Außerdem kann hinter einem GDM auch ein monogener Diabetes stecken. Von daher ergeben sich in der hausärztlichen Praxis vier Bereiche zum Mitwirken:
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Einleiten gesundheitsfördernder Maßnahmen bei Frauen mit konkretem Kinderwunsch, noch nicht abgeschlossener Familienplanung oder in der Frühschwangerschaft
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Durchführen der Nachsorge mittels oralem Glukosetoleranztest (oGTT) und Einleiten von Maßnahmen zur Prävention eines T2DM
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Aufdecken eines Glukokinase Maturity Onset Diabetes of the Young (GCK-MODY)
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Impfen gegen COVID-19
Beratung zu einer gesunden Lebensweise
Bei Frauen im reproduktiven Alter sollte anamnestisch erfragt werden, ob ein Kind oder weitere Kinder geplant sind. Bestehen Risiken wie Adipositas, sollten folgende Maßnahmen angeboten werden:
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Ernährungsberatung durch eine zertifizierte Fachkraft der Krankenkasse
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Regelmäßige körperliche Aktivität, zum Beispiel „Rezept für Bewegung“5
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Raucherinnenentwöhnung und Meiden von Schadstoffexposition
Frühschwangerschaft – was ist sinnvoll?
Nach Ergebnissen aus randomisierten Studien können früh Interventionen angeboten werden, die in der späteren Schwangerschaft die GDM-Inzidenz senken.6 Dazu zählen:
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3x30 Minuten Ergometertraining/Woche mit mittlerer Intensität in angeleiteten Gruppen
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Umstellung auf eine mediterrane Ernährung mit Supplementen von hochwertigem Olivenöl und Nüssen
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Kombination aus einer persönlichen Schulung (plus weitere Infos per Smartphone-App), Ernährungsumstellung, Bewegung und Kontrolle des Body-Mass-Index (BMI)
Diagnostik in der Frühschwangerschaft
Die Existenz eines GDM vor 24 SSW ist umstritten. In dieser Zeit sind weder der Vortest noch der oGTT validiert und daher nicht angezeigt. Die Messung einer Gelegenheitsblutglukose oder des HbA1c-Wertes ist ebenfalls ungeeignet. Die Therapie eines „GDM“ in diesem frühen Stadium konnte klinisch relevante Endpunkte nicht verbessern.7,8,9 Im Gegenteil besteht das Risiko einer mütterlichen Gewichtsabnahme und eines fetalen Substratmangels sowie unnötiger Medikamentengaben oder geburtsmedizinischer Interventionen (Einleitung, Sectio).
Trotz dieser dürftigen Beweislage ist die Frage zu beantworten, wann eine Intervention gerechtfertigt ist. Nach einer Metaanalyse reicht zur Therapieentscheidung eine Nüchtern-Plasmaglukosekonzentration von ≥110mg/dl (6,1mmol/l) hierfür aus.10 Es ist zu empfehlen, diesen Wert zunächst an einem anderen Tag durch eine Zweitmessung zu bestätigen. Dann ist eine Basisintervention gerechtfertigt (Ernährungsumstellung, vermehrte Bewegung). Dies betrifft vor allem Frauen bei Z.n. einem GDM, die an keiner Nachsorge teilgenommen haben.
Liegt der nüchtern gemessene Wert bei ≥126mg/dl (7,0mmol/l) oder bestehen diabetesassoziierte Symptome (z.B. Gewichtsabnahme, Polydipsie, Polyurie, Müdigkeit, Leistungsabfall), dann muss auch in der Schwangerschaft in standardisierter Weise ein manifester Diabetes nach der Praxisempfehlung der Deutschen Diabetes Gesellschaft nachgewiesen oder ausgeschlossen werden.11
Nachsorge: von den Frauen oft vernachlässigt
Nach einem GDM sollte in der hausärztlichen Praxis erfragt werden, ob die betroffenen Frauen an einer Nachsorge teilnehmen. Ist dies nicht der Fall, dann soll eine entsprechende Diagnostik eingeleitet werden. Der primäre Test ist ein 75-g-oGTT mit Bewertung nach den allgemeinen diagnostischen Kriterien.
Der erste Test ist bei allen Frauen nach GDM im Zeitfenster von sechs bis zwölf Wochen nach der Geburt erforderlich, dann erneut nach einem Jahr. Weitere jährliche Kontrollen werden folgenden Risikogruppen angeboten:
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GDM-Diagnose <24SSW
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Insulintherapie
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Adipositas
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Stilldauer <3 Monate oder nie gestillt
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alle 3 Werte im intragraviden oGTT erhöht
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gestörte Glukosetoleranz (IGT) im postpartalen oGTT (2-h-Blutglukose 140–199mg/dl bzw. 7,8–11,05mmol/l)
Liegen keine Risiken für die Manifestation eines T2DM vor, dann sind Kontrollen alle zwei bis drei Jahre sinnvoll. Unzureichend ist die primäre Messung des HbA1c-Wertes oder nur der Nüchternblutglukose, weil diese Werte nicht die IGT erfassen.
Wegen des erhöhten kardiovaskulären Risikos nach GDM, das unabhängig von der zwischenzeitlichen Manifestation eines T2DM besteht, sollten regelmäßig einfache Parameter überprüft werden. Dazu zählen Körpergewicht/BMI, Blutdruck und Blutfette, zum Beispiel alle zwei bis drei Jahre bei Frauen mit einem Alter über 35 Jahren. Die Schwangerschaftskomplikation GDM kann derzeit noch nicht zu einer verbesserten individuellen Prädiktion von Herzinfarkt oder Schlaganfall mit Risikorechnern herangezogen werden.
Diabetesprävention nach GDM
Zur Diabetesprävention nach GDM sind folgende Maßnahmen hervorzuheben: Stillen, Lebensstilintervention und Metformin.
Stillen wird bei allen Frauen mit GDM uneingeschränkt befürwortet. Neben den vielfältigen positiven Aspekten für die Mutter-Kind-Bindung und das Neugeborene wird nach einer aktuellen Metaanalyse das Risiko für einen Typ-2-Diabetes von Müttern, die jemals gestillt hatten, bei einer Nachbeobachtungszeit von bis zu 25 Jahren gegenüber Frauen, die niemals gestillt haben, um 34% reduziert.12 Jeder zusätzliche Monat des Stillens war mit einer 1%igen Risikoreduktion für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes verbunden.
Zur Diabetesprävention haben sich angeleitete Gruppen von Frauen mit postpartaler IGT als besonders effektiv erwiesen. Lebensstilinterventionen mit Gewichtskontrolle und vermehrter Bewegung sind mit dem Einsatz von Metformin (2x850mg/Tag, Off-Label-Use) vergleichbar, die Diabetesinzidenz wird um 35% bzw. 40% nach zehn Jahren gesenkt.13
Differentialdiagnose GCK-MODY
In 1–2% aller Fälle von GDM wird im Rahmen von Screening und Diagnostik ein GCK-MODY aufgedeckt. Es handelt sich dabei um einen autosomal-dominant vererbten Gendefekt des Glukokinase-Gens. Hinweisend sind folgende Befunde:
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persistierende Nüchternblutglukosewerte von 100–140mg/dl (5,6–7,8mmol/l)
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geringer Anstieg der Blutglukose im oGTT, in 90% der Fälle <83mg/dl (4,6mmol/l)
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BMI <25kg/m2
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fehlende Inselzellautoantikörper
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keine Parameter des metabolischen Syndroms
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ein im Referenzbereich liegender oder leicht erhöhter HbA1c-Wert
Die Diagnose wird durch eine Genanalyse gestellt.14
GDM und COVID-19
Frauen mit GDM und COVID-19 werden 3,3-mal häufiger auf einer Intensivstation aufgenommen als solche ohne GDM. In einer kürzlich publizierten Auswertung des deutschen CRONOS-Registers (Covid-19 Related Obstetric and Neonatal Outcome Study) konnte belegt werden, dass Frauen mit GDM und symptomatischer COVID-19 dann einen schwereren Infektionsverlauf hatten, wenn sie perikonzeptionell übergewichtig oder adipös waren, mit Insulin behandelt wurden und COVID-19 mit oder nach der GDM-Diagnose auftrat.15 Der schwere Verlauf war gekennzeichnet durch Aufnahme der Frauen auf der Intensivstation, eine Viruspneumonie oder die Notwendigkeit einer Sauerstoffunterstützung. Ein schwerer Verlauf wurde in dieser Studie auch bei Frauen mit einem BMI ≥25kg/m2 ohne GDM oder präexistenten Diabetes mellitus beobachtet.
Alle Frauen sollten sich gemäß Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe mit einem mRNA-Impfstoff vor der Schwangerschaft oder nach dem 1. Trimester in der Schwangerschaft gegen COVID-19 impfen lassen. Da die Impfquote bei Schwangeren derzeit noch niedrig ist, sollten alle schwangeren Frauen oder Frauen mit Kinderwunsch gezielt angesprochen werden.
Autor
Dr. med. Helmut Kleinwechter
diabetologikum kiel
Diabetes-Schwerpunktpraxis und Schulungszentrum
Kiel
Interessenkonflikte: H. Kleinwechter gibt an, dass für diesen Beitrag kein Interessenkonflikt besteht.
Literatur
1 Wang H et al. Diabetes Res Clin Pract 2022; 183: 109050
2 S3-Leitlinie Gestationsdiabetes mellitus (GDM), Diagnostik, Therapie und Nachsorge ( www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/057-008.html , Zugriff am 4.7.22)
3 Vounzoulaki E et al.: BMJ 2020; 369: m1361
4 Kramer CK et al.: Diabetologia 2019; 62: 905–14
5 https://gesundheit.dosb.de/angebote/rezept-fuer-bewegung , Zugirff am 4.7.22
6 Kleinwechter H et al.: Diabetologie 2021; 16: 109–23
7 Cosson E et al.: Diabetes Metab 2019; 45: 465–72
8 Harper L et al.: Am J Obstet Gynecol 2020; 222(5): 495.e1–8
9 Roeder H et al.: Am J Obstet Gynecol MFM 2019; 1(1): 33–41
10 Immanuel J, Simmons D: Curr Diab Rep 2017; 17(11): 115
11 Schleicher E et al.: Diabetologie 2021; 16 (Suppl 2): S110–8
12 Pinho-Gomes A et al.: Diabetes Obes Metab 2021; 23(8): 1902–16
13 Aroda V et al.: J Clin Endocrinol Metab 2015; 100: 1646–53
14 Rudland V. Diabetes Metab Syndr Obes 2019; 12: 1081–9
15 Kleinwechter H et al.: Am J Obstet Gynecol 2022; https://doi.org/10.1016/j.ajog.2022.05.027 (online ahead of print)
Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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