
22. Februar 2021
08.03.2023: Weltfrauentag
Geschlechts-spezifische Aspekte bei chronischer KHK
Das chronische Koronarsyndrom (CCS) – vormals koronare Herzkrankheit (KHK) – zählt unabhängig von Geschlecht und Alter zu den häufigsten Todesursachen. Im Praxisalltag hat man den Eindruck, dass kardiovaskuläre Erkrankungen bei Männern überwiegen. Doch mit einer Fallzahl von mehr als 20.000 Personen versterben jährlich in Deutschland fast genauso viele Frauen an einer ischämischen Herzkrankheit wie Männer.1
Keine typische Angina pectoris bei Frauen
Frauen zeigen in der Regel ein breiteres KHK-Symptomspektrum. Insbesondere das typische Leitsymptom, die klassische Angina pectoris, manifestiert sich bei Frauen oft anders als bei Männern. Häufig berichten Patientinnen über untypische Beschwerden wie Übelkeit, Bauchschmerzen oder Schwindel sowie ungewöhnliche Müdigkeit und Erschöpfung. Noch immer werden sie seltener zur kardiologischen fachärztlichen Abklärung überwiesen und in Akutsituationen deutlich später adäquat behandelt.
Aufklärung für Ärzte und Patientinnen nötig
Die Evidenzbasis für geschlechterspezifische Unterschiede in Pathophysiologie, Symptomatik, Diagnostik, Therapieansprechen und Prognose der KHK wurde in den letzten Jahren stetig erweitert. Trotz der bekannten Unterschiede in Morphologie und Funktion der Koronargefäße geben die Leitlinien wenig geschlechtsspezifische Empfehlungen.
In einer aktuellen Publikation zeigt A. Haider geschlechtsspezifische Aspekte bei Patientinnen mit Myokardinfarkt auf.2 Er weist darauf hin, dass Genetik, Hormone, Umweltfaktoren und soziale Aspekte eine bedeutsame Rolle im unterschiedlichen Outcome bei Frauen spielen.

Abb. 1: SCORE: 10-Jahres-Risiko für eine tödliche kardiovaskuläre Krankheit10
Angina pectoris – obwohl die Coro o. B. war?
Klinische Symptome können eine deutliche Diskrepanz gegenüber nichtinvasiven Untersuchungen und der Koronaranatomie und -funktion zeigen. Neben der arteriosklerotischen Herzerkrankung treten gerade bei Frauen gehäuft funktionelle und mikrovaskuläre Erkrankungen der Koronararterien auf. Im Praxisalltag treffen wir nicht selten auf Patientinnen mit Angina pectoris, obwohl epikardiale Koronarstenosen in einer Linksherzkatheteruntersuchung ausgeschlossen wurden. Gerade diese Patientinnen berichten über häufige Angina-pectoris-Attacken unabhängig vom objektiven KHK-Befund. Diese Beobachtungen bestätigte eine Post-hoc- Analyse der ISCHEMIA-Studie.3
Bei einer Analyse der Zusammenhänge zwischen Stresstest, Koronarangiografie und klinischer Beschwerdesymptomatik zeigte sich, dass bei Frauen – unabhängig von den objektiven Befunden – die Symptome der Angina pectoris deutlich schwerer waren. Als Auslöser für die eher „weibliche“ nichtobstruktive KHK wurden eine mikrovaskuläre Koronarerkrankung oder Koronarspasmen diskutiert.

Invasive Flussmessung und Acetylcholintestung
In der ESC-Leitlinie zum chronischen Koronarsyndrom von 2019 werden Empfehlungen zur Abklärung von Störungen der koronaren Vasomotion gegeben.4 Bei Patienten mit vasospastischer Angina pectoris oder Verdacht auf Mikrozirkulationsstörungen sollte bei der invasiven Diagnostik neben der Koronarangiografie eine invasive Messung der koronaren Flussreserve (CFR) erfolgen. Die intrakoronaren Druckmessungen mittels fraktioneller Flussreserve (FFR) bzw. „instantaneous wave-free ratio“ (iFR) und ggf. Darstellungen der Koronaranatomie durch intravaskuläre Bildgebung (intravaskulärer Ultraschall [IVUS], optische Kohärenztomografie [OCT]) werden empfohlen. Im Rahmen der intrakoronaren Testung sollte ein Acetylcholin-Provokationstest erfolgen.
Abhängig von Häufigkeit und Intensität der Anginabeschwerden ist die Lebensqualität der Betroffenen oft erheblich reduziert. Gleichzeitig besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für das Auftreten von klinischen kardiovaskulären Ereignissen. Das MACE-Risiko (major adverse cardiac event) war bei symptomatischen Patienten mit normalen Koronararterien im Vergleich zu asymptomatischen Kontrollen unabhängig vom Geschlecht um das 1,52-Fache erhöht.5
Vasospastische Angina pectoris
Eine vasospastische Angina tritt in Ruhe, gehäuft nachts und frühmorgens, oft bei jungen Patienten ohne klassische Risikofaktoren auf. Transiente ST-Streckenveränderungen während einer Schmerzattacke (in der Regel in Ruhe) sind oft selbstlimitierend.6
Therapie
Antianginosa als Dauertherapie
In der randomisierten CorMiCa-Studie konnte gezeigt werden, dass eine nach CFR/Acetylcholintestung eingeleitete spezifische Therapie die Anginasymptomatik signifikant reduziert.7 Für eine symptomatische medikamentöse Dauertherapie sind Antianginosa mit verschiedenen Wirkansätzen verfügbar. Als Medikation werden Kalziumantagonisten (CCBs) und/oder Nitrate und Ranolazin empfohlen.8 Ranolazin ist gut verträglich und hämodynamisch neutral, wenngleich der Wirkmechanismus noch nicht vollständig geklärt ist.
Risikofaktoren aktiv angehen
Beide Erkrankungen, die Mikroangiopathie ebenso wie die koronare Herzkrankheit als Manifestation der Atherosklerose an den Koronararterien, werden von den klassischen Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Rauchen, Diabetes mellitus und Hypercholesterinämie negativ beeinflusst. Aufgrund des unterschätzten Risikos sind Frauen weniger offen für Präventivmaßnahmen bezogen auf die Parameter Bewegung und Nikotinverzicht. Frauen fällt es schwerer, mit dem Rauchen aufzuhören. Dafür ernähren sie sich häufig gesünder als Männer.Nach der Menopause ist aber eine Gewichtsnormalisierung trotz Lifestyleänderungen oft nur schwer zu erreichen.
Frauen treiben weniger Sport. Bereits eine geringe körperliche Aktivität wirkt sich vorteilhaft auf die langfristige Prognose aus. Zusätzlich wird durch eine Trainingsintervention schon bald die symptomfreie körperliche Belastbarkeit verbessert. Eine verbesserte endothelabhängige Vasodilatation koronarer Leitungs- und Widerstandsgefäße ist nach wenigen Wochen eines regelmäßigen körperlichen Trainings bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit nachweisbar.9

Prävention durch körperliche Aktivität
Im Alltag ist es aber so, dass 65% aller Frauen weniger als 2,5 Stunden pro Woche körperlich aktiv sind – sie erfüllen also nicht die Aktivitätsempfehlungen der WHO. Angeraten wird wöchentlich mindestens 150 Minuten moderate Bewegung oder 75 Minuten anstrengendes Training oder eine Kombination aus beiden. Optimal ist es, diesen Umfang zu verdoppeln. Ergänzend soll an zwei Tagen pro Woche ein Muskel-Kraft-Training ausgeführt werden. Eine ausreichende körperliche Aktivität (und der dadurch erzielte Energieverbrauch) spielt auch eine Schlüsselrolle in der Prävention von Übergewicht und Adipositas.
Die aktuelle ESC-Leitlinie „Sportkardiologie und körperliche Aktivität bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen“ weist im Kapitel „Sex differences“ auf die Notwendigkeit der gendermedizinischen Aspekte in der Sportberatung von Gesunden, Patienten mit Risikofaktoren und kardial Erkrankten hin.10 Bei der Trainingsgestaltung sollten frauenspezifische leistungsphysiologische, metabole und hormonelle Unterschiede berücksichtigt werden, besonders beim Festlegen von Umfang, Intensität und Periodisierung des Trainings. Das Training sollte regelmäßig zwei- bis dreimal pro Woche stattfinden. Es sollte zu Beginn nicht als anstrengend empfunden werden (Borg-Skala 10–12) und kann auf moderates Leistungsniveau gesteigert werden.
Die Trainingsempfehlungen sollten individualisiert und an den Zielen, Wünschen, Bedürfnissen sowie Präferenzen der Frauen orientiert sein, die oft anders sind als die der Männer.
KeyPoints:
Therapieziele: verbesserte Lebensqualität und höhere Lebenserwartung
Im Praxisalltag sind kardiovaskuläre Erkrankungen noch immer „Männerdomäne“. Das geringere Bewusstsein für das chronische Koronarsyndrom bei Frauen spielt eine wichtige Rolle in der geschlechterspezifischen Primär- und Sekundärprävention.
Das Wissen um Unterschiede in Symptomatik, Diagnostik und Behandlung ist wichtig, um kardiovaskuläre Erkrankungen frühzeitig zu identifizieren und adäquat zu therapieren. Damit kann gerade der Hausarzt einen wesentlichen Beitrag leisten, um die Versorgung der Patientinnen mit chronischer KHK zu verbessern.
In Zukunft bedarf es weiterer Thematisierung geschlechterspezifischer Aspekte in nationalen und internationalen Leitlinien. Die in klinischen Studien gewonnenen Daten sollten geschlechterstratifiziert analysiert werden, auch wenn Männer in klinischen Studien zu kardiovaskulären Erkrankungen weiterhin überrepräsentiert sind.
Autorin
Dr. med. Susanne Berrisch-Rahmel
Fachärztin für Innere Medizin und Kardiologie, Sportmedizin, Präventivmedizin DGPR Zusatzqualifikation Sportkardiologie DGK
Gendermedizinerin DGesGM KardioProPraxis für Kardiologie/Innere Medizin, Sportmedizin und Sportkardiologie, Düsseldorf
Literatur:
1 Nationale Versorgungsleitlinie Chronische KHK, 5. Auflage, 20192 Haider a et al.: Sex and gender in cardiovascular medicine: presentation and outcomes of acute coronary syndrome. Eur Heart J 2020; 41: 1328-363 Reynolds HR et al.: Association of sex with severity of coronary artery disease, ischemia, and symptom burden in patients with moderate or severe ischemia. Secondary analysis of the ISCHEMIA randomized clinical trial. JAMA Cardiol 2020; 5: 773-864 Knuuti J et al.: 2019 ESC Guidelines for the diagnosis and management of chronic coronary syndromes. Eur Heart J 2020; 41: 407-775 Jespersen L et al.: Stable angina pectoris with no obstructive coronary artery disease is associated with increased risks of major adverse cardiovascular events. Eur Heart J 2012; 33: 734-446 Möllmann H et al.: Kommentar zu den Leitlinien (2019) der ESC zum chronischen Koronarsyndrom. Kardiologe 2020; 14: 482-917 Ford TJ et al.: Coronary microvascular dysfunction: assessment of both structure and function. J Am Coll Cardiol 2018; 72: 584-68 Ong P, Sechtem U: Optimale Diagnostik und Therapie der mikrovaskulären Angina pectoris; Dtsch Med Wochenschr 2017; 142: 1586-939 Berrisch-Rahmel S et al.: Trainingsempfehlungen bei Frauen. In: Sportherz und Herzsport, Thieme Verlag 2020; ISBN 978313175101010 Pelliccia A et al.: 2020 ESC Guidelines on sports cardiology and exercise in patients with cardiovascular disease. Eur Heart J 2020; doi:10.1093/eurheartj/ehaa605
Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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so groß ist der Anteil der Männer mit Übergewicht und Adipositas in der Europäischen Region, der Anteil bei den Frauen liegt bei 54%.