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23. Februar 2023

Chronische Niereninsuffizienz bei komplex kranken, alten Menschen

Ist Dialyse immer hilfreich?

Es war eine herausfordernde Aufgabe, für die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin einen Beitrag unter dem Motto: Gibt es ein Ende ohne Schrecken zum Thema „Palliativmedizin bei terminalem Nierenversagen“ zu verfassen. Natürlich gibt es im Leben kein Ende ohne Schrecken. Allenfalls Annäherungen an dieses Ziel. Dafür gab es früher die Strategie der ars moriendi, heute Patientenverfügung und „advanced care planning“. Wenn das Ende näher rückt, möchten wir erfahren, was uns droht!

In kaum einer verfassten Patientenverfügung steht: Dialyse, ja unbedingt, das will ich, egal was kommt! Und trotzdem ist der Anteil von Menschen, die neu zur Dialyse vorgeschlagen und so behandelt werden, besonders hoch und stetig steigend im hohen Lebensalter. Wenn die davon Betroffenen wüssten, was 2009 erstmalig darüber publiziert wurde1, dann würden viele ihre Einwilligung verweigern.

Vor Dialysebeginn wird üblicherweise versprochen, dass sich die Lebensqualität und die verbleibende Lebenszeit durch die spezifische Behandlung verbessern. Aber dies ist anscheinend gar nicht immer so! Denn es konnte für Altenheimbewohner in Amerika gezeigt werden, dass sich weder die Lebensqualität verbessert noch die Lebenszeit verlängert: Nach drei Monaten war schon ein Viertel, nach einem halben Jahr die Hälfte der Betroffenen verstorben! Und der funktionelle Status war bei der Mehrzahl erschreckend verschlechtert (Abb. 1). Dass diese Veröffentlichung eine Erschütterung in der Dialysewelt bedeutete, ist klar. So schrieben denn auch die Editoren einen klaren Kommentar: Der Verzicht auf Nierenersatztherapie ist eine gute Option, Patientenziele besser umzusetzen. Und, dass wir uns mehr darum bemühen müssen, die Betroffenen für ihre Überlegungen vor einer Entscheidung über Prognoseerwartung und Lebensqualität zu informieren.1

Abb. 1: Veränderungen des funktionellen Status seit Dialysebeginn

Kritisch muss man bemerken, dass bei dieser Untersuchung vergessen wurde, zu erörtern, wie denn die Überlebensaussichten sind von Menschen, die neu ins Altenheim kommen, ohne terminal nierenkrank zu sein. Denn die sind nicht sehr verschieden von den angegebenen Daten. Warum also all das? Eine schwierige Frage. Steckt dahinter ein ökonomisches Interesse?2 In letzter Zeit werden immer mehr Dialyseeinrichtungen von gewinnorientierten Großunternehmen aufgekauft. Und Ärzte führen Gespräche über die Prognose selten, weil sie fürchten, mit den Emotionen, die darauf folgen, nicht angemessen umgehen zu können. Natürlich gibt es dafür auch kaum Zeit. Rund 90% der Menschen in dieser Lebenssituation erwarten Informationen zur Prognose, etwa 10% erhalten sie. Es wird berichtet, dass, wenn die Lebenserwartung länger als ein Jahr wäre, die Betroffenen auch therapieabhängige Einschränkungen in Kauf nähmen3, was für Dialyse im höheren Lebensalter mit Komorbiditäten sicher ist.

Wer von der Dialyse profitiert, wer nicht

Amerika ist nicht Europa. In Großbritannien wurde schon 2003 in einer kleinen Kohortenstudie untersucht, wie sich die Entscheidung für oder gegen eine Nierenersatztherapie auf Überlebensdauer und Lebensqualität bei komplex Kranken auswirkt. Und es heißt in der Zusammenfassung, dass eine Dialyse keinen oder kaum einen positiven Einfluss auf das Überleben habe und also eine unnötige Medikalisierung des Sterbens sei.4 Einige Jahre später veröffentlichte die gleiche Arbeitsgruppe neue Daten mit weiteren Argumenten gegen die Entscheidung für Nierenersatztherapie bei multimorbiden alten Menschen.5 Diese Arbeit verdeutlicht, dass diese Patienten von der Dialyse nicht profitieren (Abb. 2). Aber es wird auch klar, dass gesündere alte Menschen mit Nierenersatztherapie deutlich länger leben können als ohne! Immer wieder stellt sich daher die Frage: Wie können wir die einen von anderen so gut wie möglich unterscheiden?

Abb. 2: Vergleich der Kaplan-Meier-Überlebenskurven nach Modalität (RRT vs. konservatives Nierenmanagement) bei Patienten > 75 Jahre; links: Personen mit niedriger Komorbidität, rechts: Personen mit hoher Komorbidität (mod. nach Shahid MC et al. 20115)

Auch in Deutschland wurde eine Studie mit dem Namen „Elderly“ mit mehr als 2.500 Patienten initiiert.6 Sie stellte die Frage nach der Überlebenszeit und Lebensqualität von alten Menschen hier, die Nierenersatztherapie brauchen. Das Ergebnis war sehr viel positiver als in den Vereinigten Staaten. Selbst bei komplex kranken Menschen betrug die Mortalität nach zwei Jahren 34%. Auch die Lebensqualität entwickelte sich viel positiver. Also können in Deutschland die US-amerikanischen Daten nicht pauschal übernommen werden, obwohl dies in einer deutschsprachigen Zeitschrift so zusammengefasst wurde. Dort wurde eine Nierenersatztherapie im höheren Lebensalter (>80Jahre) oder bei schwerer Komorbidität nicht empfohlen.7 Wesentlich ist, dass die Dialyse eben nur Nierenversagen, Salzimbalancen, Überwässerung, Anämie, Azidose und Hypertonie, aber nicht andere Komorbiditäten behandeln kann. Abgesehen davon werden aufgrund der engmaschigen Kontrolle durch Dialyseärzte dreimal pro Woche sicher auch Begleiterkrankungen beachtet und behandelt. Wer ist schon so oft in ärztlicher Obhut? Hierzu aber gibt es keine Untersuchungen.

Entscheidend ist die Prognoseerwartung

Die Entscheidung in dieser immer sehr schwierigen Situation hängt daher ganz wesentlich von der Prognoseerwartung ab, also neben dem biologischen Alter von den Begleiterkrankungen. Wie kann dies so richtig, individuell angemessen und neutral wie möglich erfasst werden? Dazu brauchen wir neben „Instrumenten“ vor allem Zeit, Empathie, Erfahrung und gute Kommunikation, auch mit dem Umfeld und den Mitbehandlern. Mehr also, als realistisch möglich. Immerhin gibt es erste Schritte, dass für Menschen in stationären Einrichtungen „advanced care planning“ über SGB-V-Leistungen institutionalisiert wurde.

Ansonsten sind wir derzeit auf Scores angewiesen. Die beste Zusammenstellung hierzu ist von der Arbeitsgruppe um Farrington veröffentlicht worden (Abb. 3).8 Hier werden das Sterblichkeitsrisiko, gemessen mit dem BANSAL-Score, und die Wahrscheinlichkeit, wie sich die Nierenfunktion verschlechtert, gemessen mit dem KFRE-Score, gegenübergestellt. Auch die Gebrechlichkeit wird berücksichtigt. Mit Hilfe dieser Algorithmen, die über http://touchcalc.com/calculators/sq abgerufen werden können, sollten die Betroffenen über ihre Prognose und die Geschwindigkeit der fortschreitenden Niereninsuffizienz informiert werden. Auf dieser Basis kann dann eine gemeinsame Entscheidung über das künftige Vorgehen getroffen werden. Es wird ein weiterer Algorithmus aus einer französischen Arbeit erwähnt, der das Risiko beschreibt, innerhalb von sechs Monaten nach Dialysebeginn zu versterben.9 Dies ist sinnvoll und nötig, um trotz Dialysebeginn Mortalitätsraten und Verschlechterungen der Lebensqualität, wie in der Arbeit von Tamura1 gezeigt, zu vermeiden.

Abb. 3: Algorithmus zur gemeinsamen Entscheidungsfindung bei der Behandlung älterer Patienten mit CKD im Stadium 3b oder schlechter (eGFR <45ml/min/1,73 m2) basierend auf der Abschätzung des Mortalitätsrisikos unter Verwendung des BANSAL-Scores und des Risikos einer Progression zu ESKD (Nierenerkrankung im Endstadium) basierend auf dem KFRE-Score. Für Patienten mit eGFR <15ml/min/1,73m2 liefert der RAIN-Score eine Risikovorhersage des Todes in den ersten sechs Monaten nach Beginn der Dialyse.

Was ist also der Nutzen von Nierenersatzverfahren für gebrechliche Ältere bei einer glomerulären Filtrationsrate <15 ml/min (Stadium CKD5). Hier ist ihr Nutzen gegenüber einem konservativen Vorgehen nicht bewiesen. Sicher ist leider auch, dass wir bisher alle Kenntnis nur aus Beobachtungsstudien, nicht aber aus geplanten, kontrollierten Untersuchungen haben. Immerhin gibt es eine Metaanalyse zu elf solcher Studien mit insgesamt 1.718 Patienten.10 Es zeigte sich, dass in diesem Kollektiv die Entscheidung für Dialyse die Last der Nierenkrankheit auf das tägliche Leben im Verlauf ansteigen ließ. Die Menschen, die sich für den konservativen Weg entschlossen hatten, empfanden eine ähnliche Lebensqualität wie die Dialysierten. Das zeigt natürlich auch, dass wir dringend qualitativ sehr gute und prospektive Studien brauchen, um diese unsicheren Befunde zu klären.

Ausblick: Es gibt noch viel zu tun

Wir brauchen freundlichere, wahrhaftigere sowie bessere Werkzeuge und Umgangsformen, um mit Betroffenen und Angehörigen tatsächlich in den Prozess einer gemeinsamen Entscheidungsfindung hineinzukommen. Hierbei steht die zu erwartende Prognose im Zentrum. Nur in Kenntnis davon kann eine justitiable Einwilligung zu einem medizinischen Eingriff erfolgen. Dazu können wir zurzeit die vorgeschlagenen Scores „BANSAL, KFRE und REIN“ nutzen. Für den Fall, dass Dialyse nicht mehr das halten kann, was anfangs versprochen wird, nämlich Verlängerung der Lebenszeit bei besserer Lebensqualität, dann können Nephrologen und ihr Team eine angemessene Betreuung allein nicht schaffen. Hier wird an neuen, übergreifenden Strukturen gearbeitet und es gibt Fortschritte. Es mag genug Daten geben, um zu behaupten, dass eine konservative Betreuung ohne Dialyse auch eine lebbare Behandlungsoption für alte, gebrechliche Menschen ist. Durch gute konservative Behandlung wird nicht, wie durch Dialyse öfter, Lebensqualität eingeschränkt, mehr Intensivmedizin exerziert und der Sterbeort häufiger ins Krankenhaus verlegt. Dass neben Dialyse auch konservatives Handeln im Angesicht der Prognose ein Weg sein kann, der mit den Patientenzielen sogar besser vereinbar ist, muss vor der Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie deutlich angesprochen werden.

Autor
Prof. Dr. med. Peter Maria Rob
Facharzt für Innere Medizin und Nephrologie
Lübeck

Interessenkonflikte:
Der Autor hat keine deklariert.

1. Tamura MK et al.: N Engl J Med 2009; 361: 1539–47

2. Keller F el al.: Med Klinik 2007; 102: 659–64

3. Tamura MK el al.: CJASN 2017; 12: 435–42

4. Smith C et al.: Nephron Clin Pract 2003; 95: c40–6

5. Shahid MC et al.: Nephrol Dial Transplant 2011; 26(5): 1608–14

6. Seckinger J et al.: Clin Kidney J 2016; 9: 839–48

7. Bükki C et al.: Z Palliativmedizin 2013; 14: 257–67

8. Farrington K et al.: Nephrol Dial Transplant 2017; 32: 9–16

9. Couchoud C et al.: Nephrol Dial Transplant 2009; 24: 1553–61

10. Verberne WR et al.: Nephrol Dial Transplant 2021; 36: 1418–33


Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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