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5. April 2023

Schmerztherapie

Cannabis als Medizin: Wer profitiert?

Seit Verabschiedung des Gesetzes „Cannabis als Medizin“ 2017 sind Cannabinoide unter bestimmten Voraussetzungen verordnungs- und erstattungsfähig. Eingesetzt werden sie in 75% der Fälle zur Behandlung von Schmerzen. Doch das Sortiment an Präparaten ist groß und die Evidenz für den Einsatz uneinheitlich.

Cannabis greift an vielen Stellen im Körper ein, zum Beispiel bei Schmerzinitiation und -wahrnehmung, Appetitregulation, Motorik und gastrointestinaler Motilität. Seine Wirkung geht auf zahlreiche Inhaltsstoffe zurück, allen voran die große Gruppe der Cannabinoide. Deren bekannteste und für die medizinische Anwendung relevanteste Vertreter sind die Phytocannabinoide Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Dabei wirkt THC als primäres psychoaktives Cannabinoid analgetisch, euphorisierend, appetitstimulierend und antiemetisch. Demgegenüber hat CBD als nicht psychotropes Cannabinoid antikonvulsive, neuroprotektive, anxiolytische und in höherer Dosierung auch antiinflammatorische Wirkung.1

Der Präparate-Dschungel

Für die Therapie mit medizinischem Cannabis können Haus- und Fachärzte inzwischen auf ein breites Sortiment an verschreibungsfähigen Cannabiszubereitungen zurückgreifen: getrocknete Blüten der weiblichen Cannabispflanze, (Vollspektrum-)Extrakte in pharmazeutischer Qualität und synthetische Cannabinoide wie Dronabinol und Nabilon.1–3 Ihre Darreichungsformen reichen von Mundsprays über Tees und Kapseln bis hin zu öligen Tropfen.

Bei Medizinalcannabisblüten, einem Naturprodukt, schwankt die Konzentration der Inhaltsstoffe von Blüte zu Blüte – besonders bei genetischen Veränderungen der Mutterpflanze.1 Außerdem variiert der Gehalt von THC und CBD je nach Sorte – was zu unterschiedlichen Wirkungen führt. Für den medizinischen Einsatz ist es daher wichtig, dass beim Rezeptieren die Sorte der Blüten als Aut-idem-Verordnung angegeben wird. Die inhalative Anwendung der Blüten birgt zudem die Gefahr von Über- oder Unterdosierungen.

Standardisierte Cannabis-Vollspektrumextrakte haben dagegen einen genau definierten Gehalt an THC und/oder CBD, was die Verschreibung patientenindividueller Rezepturarzneimittel mit bestimmtem THC/CBD-Verhältnis möglich macht. Die orale Einnahme der Extrakte gewährleistet zudem eine kalkuliertere Wirkstoffaufnahme als die inhalative Anwendung von Blütenpräparaten.

In der Praxisleitlinie „Cannabis in der Schmerzmedizin“ wird die Verordnung von Cannabisblüten zu medizinischen Zwecken daher von der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. nicht empfohlen. Neben den bereits genannten Gründen werden auch mögliche Verunreinigungen sowie Überschneidungen mit dem Freizeitgebrauch angeführt.4

Wie ist die Kostenübernahme durch die Krankenkassen geregelt?

Handelt es sich um eine schwerwiegende Krankheit ohne therapeutische Alternative zur Cannabisbehandlung und mit Aussicht auf eine spürbare positive Wirkung auf Krankheitsverlauf oder Symptome durch die Cannabistherapie, soll nach vorheriger Antragstellung bei der Krankenkasse die Therapiekostenübernahme genehmigt werden. Wird während der Therapie die Produktkategorie (Blüten, Extrakte) gewechselt, ist meist ein neuer Antrag erforderlich, nicht jedoch bei Dosisanpassungen oder einem Wechsel zwischen Extrakten.2

Doch in der Realität benötigt das Genehmigungsverfahren gerade bei Patienten mit schwer oder unkontrollierbaren Symptomen häufig noch zu viel Zeit, ein Drittel der Anträge wird derzeit abgelehnt. Für eine Verbesserung der Qualität der Patientenversorgung mit medizinischen Cannabinoiden will sich die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. daher mit der „DGS-Schmerzinitiative Cannabinoide 2022/2023“ einsetzen.13

Frei verkäufliche Präparate: eine Alternative?

Der Hanfanbau für die Herstellung von Cannabismedikamenten erfolgt unter standardisierten und streng kontrollierten Bedingungen. Die Pflanzenbestandteile in CBD-Ölen, die als Nahrungsergänzungsmittel frei verkäuflich sind, unterliegen dagegen deutlich weniger Kontrollen – auch im Hinblick auf den Gehalt an Pestiziden, Schwermetallen oder anderen Schadstoffen. Es handelt sich zudem oft um Vollspektrum-Öle, deren Wirkstoffkonzentrationen und THC/CBD-Verhältnisse stark schwanken können. Für die kontrollierte therapeutische Anwendung und die zum Teil anvisierten CBD-Konzentrationen sind sie daher keine wirkliche Alternative.5

Einsatz und Nutzen von medizinischem Cannabis: 5-Jahres-Daten des BfArM

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) initiierte eine fünfjährige nicht interventionelle Begleiterhebung zur Anwendung, zu deren Teilnahme alle verschreibenden Ärzte nach Einführung des Gesetzes „Cannabis als Medizin“ verpflichtet waren.6 Es zeigte sich, dass die Indikation Schmerz in 75% der 16.000 ausgewerteten Datensätze deutlich führte – ohne dass jedoch zwischen den Schmerzursachen differenziert wurde. Weitere Indikationen waren Spastik, Anorexie, Übelkeit/Erbrechen, Depressionen und ADHS. Zwei Drittel der Behandler schätzten den Therapieerfolg als positiv ein. Am häufigsten verordnet wurde das niedrig dosierte, orale THC-Präparat Dronabinol. Deutlich seltener wurden Cannabisblüten mit höherem THC-Gehalt abgegeben – vor allem an jüngere männliche Patienten, was die kritische Frage aufwirft, ob durch die Verschreibungsfähigkeit von Cannabis möglicherweise auch Suchterkrankungen unterstützt werden.

Das Nutzerverhalten konnte anhand von 8.000 Datensätzen abgebildet werden: Hauptgründe für einen Therapieabbruch waren bei 1.179 Therapieabbrechern eine unzureichende Wirksamkeit (40%) und Nebenwirkungen (31,2%). Einen moderaten bis deutlichen Therapieerfolg konstatierten 75% der Anwender von Cannabisextrakten, gefolgt von 60% der mit einem Nabiximols-haltigen Mundspray und 65% der mit Dronabinol Behandelten. In puncto Lebensqualität sehen die Daten ähnlich aus.

Welche Patienten profitieren von medizinischem Cannabis?

Die Evidenz zum Einsatz von medizinischem Cannabis fällt uneinheitlich aus. Die besten Daten liegen für chronische neuropathische Schmerzen vor. Auch bei Fibromyalgie und geriatrischen Schmerzen erwiesen sich Cannabisarzneimittel als wirksam – deutlich weniger jedoch bei akuten postoperativen Schmerzen und den meisten muskuloskelettalen Schmerzsyndromen.7

Basierend auf den Ergebnissen der vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten CaPRis-Studie (Cannabis: Potenzial und Risiken) konnte die Wirksamkeit von Cannabisarzneimitteln bei neuropathischen Schmerzen, Schmerzen bei Multipler Sklerose (MS) sowie rheumatischen Erkrankungen gut belegt werden – einschließlich muskuloskelettaler Schmerzen und Rückenschmerzen.8,9 Bis zu 30% der Patienten gaben eine subjektive Linderung bei neuropathischen Schmerzen oder MS-Schmerzen an, die vor allem zentralnervösen Nebenwirkungen waren meist leicht bis mittelstark ausgeprägt.9 Auch die im Auftrag der Deutschen Schmerzliga untersuchte Therapie mit einem Cannabidiol- und Dronabinol-haltigen Mundspray bei 800 Schmerzpatienten führte bei rund 80% der Behandelten zu einem Nachlassen der Beschwerden.10

Cannabinoide werden als Add-on-Therapie bei Schmerzpatienten auch eingesetzt, um deren Analgetikabedarf zu reduzieren und diesbezügliche Nebenwirkungen zu verringern. Im Rahmen einer Entscheidungskonferenz zum relativen Nutzen-Sicherheits-Verhältnis von zwölf pharmakologischen Behandlungen bei chronischen neuropathischen Schmerzen kam 2022 eine Gruppe von klinischen Experten, Wissenschaftlern und Patientenvertretern zu dem Ergebnis, dass für Cannabinoide die beste Nutzen-Schaden-Bilanz vorliegt. Arzneimittel auf Cannabisbasis mit einem THC/CBD-Verhältnis von 1:1 erzielten in der Bewertung mit 79 (von 100) Punkten die höchste Gesamtpunktzahl, gefolgt von CBD-dominanten Präparaten mit 75 und THC-dominanten mit 72 Punkten, während die herkömmlich eingesetzten Analgetika deutlich niedrigere Werte erzielten (Abb.).11

Eine andere Indikation für medizinischen Cannabis ist die medikamentenresistente fokale Epilepsie bei Erwachsenen. In einer open-label prospektiven Kohortenstudie konnte ein Zusatznutzen für eine Cannabisformulierung mit 100mg/ml CBD und <1,9mg/ml THC gezeigt werden: 79,5% der 44 in die Auswertung eingegangenen Patienten erreichten eine Anfallsreduktion um mehr als 50%.12

Bericht: Dr. med. Christine Adderson-Kisser, MPH


Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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