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1. Februar 2023

Neue ambulante interdisziplinäre Diagnostik und Therapieangebote

Chronifizierung des Schmerzes vermeiden

Chronische Schmerzen und ihre Folgen sind in der Regelversorgung eine große Herausforderung für Behandler. Laut einer Studie von 2014 haben bis zu 27% der Bevölkerung Schmerzen von mindestens drei Monaten Dauer.1 Bei etwa jedem vierten Patienten mit Schmerzen sind diese mit einem hohen Leidensdruck, Beeinträchtigungen im sozialen und/oder beruflichen Umfeld sowie Einschränkungen der Lebensqualität verbunden, bei etwa jedem zehnten Patienten zusätzlich mit psychischen Veränderungen.1

Das Gesundheitssystem ist deshalb an vielen Stellen im Krankheitsverlauf gefordert und oft überfordert. Dem Leidensdruck der Patienten stehen immense direkte Kosten im Gesundheitswesen, indirekte gesellschaftliche Kosten sowie langwierige und frustrierende, wenig abgestimmte und abgestufte Behandlungsverläufe bzw. Therapiemöglichkeiten gegenüber. In der Niederlassung sind Patienten mit chronischen Schmerzleiden oft nicht sicher identifizierbar2 und für die ambulante Behandlung chronischer Schmerzpatienten fehlen häufig hinreichende Kenntnisse zu Störungsmodell und den sich davon ableitenden patientenorientierten Therapiemaßnahmen. Auch gibt es bisher kaum frühzeitig im Krankheitsverlauf angepasste, ambulante Diagnostik- und Therapieprogramme zur Versorgung von Menschen mit wiederkehrenden Schmerzen und dem Risikoprofil für Chronifizierung.3,4

Ziele der PAIN2020-Studie

Mit der Studie PAIN2020 (Patientenorientiert. Abgestuft. Interdisziplinär. Netzwerk.; 01NVF17049) wurde von April 2018 bis März 2022 ein frühzeitig im Krankheitsverlauf einsetzendes „Interdisziplinäres Multimodales Assessment“ (IMA), im Vergleich zu einem monoprofessionellen Assessment in der schmerztherapeutischen Regelversorgung, eingeführt.2,5 Das Ziel war, die Versorgungsqualität und -effizienz für Patienten mit Risikofaktoren für chronifizierende Schmerzen zu verbessern (s.a. Der Allgemeinarzt 7/2021, S. 14–16).

Die Besonderheit des IMA ist eine medizinische, physiotherapeutische und psychologische Befunderhebung. Daran schließt sich eine interdisziplinäre, integrative Teambesprechung an, um ein gemeinsames Störungsmodell zu entwickeln, sowie, daran angelehnt, eine ergebnisoffene und sektorenübergreifende patientenorientierte Empfehlung (Abb. 1). Das Ergebnis wird dem Patienten abschließend von allen drei Untersuchern mitgeteilt und erläutert. Dies ermöglicht dem Patienten, das in der Teamsitzung erarbeitete Störungsmodell und die ausgesprochenen Empfehlungen nachzuvollziehen. Die Empfehlungen können – entsprechend den Möglichkeiten des Patienten und der durch die Therapeuten eingeschätzten Notwendigkeit – individuell auf den Patienten ausgerichtet werden, wodurch sich eine verbesserte Compliance und Umsetzung der Therapieempfehlung einstellt.

© A. Preissler

Abb. 1: Inhalte und Ablauf im IMA/A-IMA

Erste Resultate der Studie PAIN2020

Als Ergebnis von PAIN2020 liegt ein Selektivvertrag zum „Ambulanten Interdisziplinär-Multimodalen Assessment“ (A-IMA) vor, der zunächst nur für Patienten der BARMER offen ist – eine Erweiterung auf andere Krankenkassen ist in Arbeit. Bundesweit haben bereits mehr als 20 Einrichtungen ihr Interesse an einem A-IMA bekundet und setzen dieses Angebot in ihrer Region um.6

Abb. 2: Ambulante interdisziplinäre multimodale Therapieangebote in PAIN2020

Während der Laufzeit von PAIN2020 wurden zudem zwei ambulante interdisziplinäre multimodale Therapieangebote entwickelt und implementiert, die sich an Patienten mit Risikofaktoren für eine Schmerzchronifizierung und anhaltende bzw. wiederkehrende Schmerzen richten (Abb. 2). Die Inhalte dieser Therapieangebote wurden unter Zuhilfenahme bereits bestehender Konzepte, evidenzbasierter (Praxis-)Modelle und Manuale erarbeitet. An dem Entwicklungsprozess war ein multiprofessionelles Team der Konsortialpartner aus PAIN2020 und weiterer ärztlicher, psychologischer und physiotherapeutischer Kollegen der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V. und der Deutschen Gesellschaft für Schmerzpsychotherapie und -forschung e.V. beteiligt.

Beide Therapieangebote wurden bereits von 14 PAIN2020-Zentren durchgeführt.7 Durch das begleitende Monitoring und in zwei über die Projektlaufzeit verteilten Workshops wurden die Therapiekonzeption wie auch die Umsetzbarkeit und Praktikabilität im Alltag geprüft. Sie wurden dann entsprechend den Bedürfnissen von Patienten bzw. den Erfahrungen der Therapeuten angepasst und bilden nun die Grundlage für das Folgeprojekt PAIN2.0 (Patientenorientiert. Abgestuft. Interdisziplinär. Netzwerk – Therapie).

Was ist und möchte PAIN2.0?

PAIN2.0 ist ein Konsortialprojekt des Innovationsfonds (01NVF20023), das durch den Gemeinsamen Bundesausschuss gefördert wird. Unter der Führung der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V., unterstützt durch die BARMER und in Zusammenarbeit mit verschiedenen Einrichtungen als Konsortialpartner, soll die Wirksamkeit einer „Ambulanten Interdisziplinären Multimodalen Schmerztherapie“ (A-IMST) zur Vermeidung einer Schmerzchronifizierung untersucht werden. Bisherige, bereits in der Regelversorgung etablierte Konzepte der teilstationären und stationären interdisziplinären multimodalen Behandlungen sind lediglich auf Patienten mit bereits chronifizierten Schmerzen und Versagen der ambulanten Vorbehandlungen ausgelegt.

Die A-IMST ist ein zehnwöchiges ambulantes interdisziplinäres Gruppenprogramm und wird bundesweit in 22 PAIN2.0-Zentren in Form einer klinisch-randomisierten Studie im Cross-over-Design (Interventions-/Kontrollgruppe, je 6 Monate zwischen dem Start) evaluiert. Ziel der A-IMST ist es, einer späteren manifesten chronischen Schmerzerkrankung mit Verlust von physischer und psychischer Leistungsfähigkeit entgegenzuwirken bzw. diese abzumildern.

Neben der Evaluation der Wirksamkeit mit Fokus auf Schmerzerleben, Funktion und Zufriedenheit mit der Behandlung werden mögliche körperliche und psychologische Wirkfaktoren untersucht, um auch die inhaltliche Gestaltung und Umsetzung zu überprüfen.

Das Therapiekonzept der A-IMST in PAIN2.0

Die A-IMST soll Menschen mit wiederkehrenden Schmerzen über das biopsychosoziale Modell von Schmerz aufklären. Sie soll zudem individuelle Strategien zur Schmerzbewältigung sowie aktive Übungen vermitteln und im Alltag zu einer Veränderung von Schmerz- und Belastungsgestaltung führen (Abb. 3). Entsprechend aktueller Literatur kann eine Mischung aus edukativen Anteilen und aktiven Übungen eine weitere Chronifizierung von Schmerz vermeiden. Vorgesehen ist ein Gruppenkonzept mit wöchentlichen Terminen von drei Stunden Dauer mit ergänzenden Einzelsitzungen. Eine regelmäßige Teamsitzung führt die Informationen aus den Gruppen- und Einzelkontakten zusammen und ermöglicht eine integrative Sicht für Diagnosestellung, Durchführung der Interventionen und abschließende weiterführende Empfehlungen. Alles ist alltagsbegleitend geplant (z.B. Termine am späten Nachmittag).

© A. Preissler

Abb. 3: Ablauf der A-IMST

In PAIN2.0 arbeiten ärztliche, physiotherapeutische und psychologische Kollegen interdisziplinär zusammen. Dies ist innovativ, weil interdisziplinäre Ansätze in der Prävention noch nicht weit verbreitet sind. Außerdem arbeiten die Professionen auch eng in der Gruppendurchführung zusammen. Somit wird die Gruppe durch mindestens zwei Professionen gleichzeitig betreut. So soll erreicht werden, dass der Wissenstransfer und die Vermittlung des biopsychosozialen Modells aus allen verfügbaren Perspektiven erfolgt.

An wen richtet sich PAIN2.0?

PAIN2.0 richtet sich an Menschen mit anhaltenden bzw. wiederkehrenden Schmerzen (analog zum A-IMA), wenn sie:

  • mindestens 18 Jahre und gesetzlich versichert sind (bei A-IMA aktuell nur BARMER),

  • sich in ihrer Lebensführung durch diese Schmerzen eingeschränkt fühlen und

  • ggf. bereits erste Anzeichen auf Risikofaktoren für eine Schmerzchronifizierung aufweisen (z.B. negative Stimmung, ausgeprägte Sorgen vor der Zukunft).

Patienten, die eine bereits bekannte und vorbehandelte chronische Schmerzerkrankung haben (z.B. Therapie mit starken Opioiden >6Monate, teilstationäre/stationäre Schmerztherapie), sind nicht für PAIN2.0 geeignet.

Wie können Sie als potenzieller Zuweiser hiervon profitieren?

Die frühzeitige Vermittlung eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses soll die ambulante Versorgung von Patienten mit anhaltenden Schmerzen und dem Risiko für eine Chronifizierung verbessern und stärken.

Schwierigkeiten in der Identifizierung und Behandlung dieser Patienten sind oft durch ein überwiegend somatisches Krankheitsverständnis und eine unzureichende oder ungünstig ausgerichtete Eigenverantwortung (z.B. auf Durchhaltestrategien oder gezieltes Vermeiden) gegeben. Patienten und Behandlern fällt es häufig schwer, diese individuellen psychosozialen Faktoren an- und auszusprechen und deren konkrete Bedeutung sichtbar zu machen, nicht zuletzt wegen der zeitlichen Rahmenbedingungen. Dies kann zu einem zunehmenden Leidensdruck von Patienten und Angehörigen beitragen – unimodale Therapiemaßnahmen (wie Medikation oder gelegentliche Physiotherapie) sind dann nicht oder nicht mehr hinreichend wirksam.

Das Etablieren eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses beim Patienten soll nicht nur einer Schmerzchronifizierung entgegenwirken. Das Vermitteln von Eigenverantwortung und Gesundheitskompetenzen soll auch dazu beitragen, im ambulanten Behandlungsalltag eine gute therapeutische Beziehung zum Patienten beizubehalten, die Compliance zu fördern und Verantwortung für förderliche Bewältigungsansätze beim Patienten zu belassen.

Bei Teilnahme erhalten Sie einen abschließenden Bericht mit ggf. weiterführenden Empfehlungen. Wir hoffen so, mit PAIN2.0 auch eine bessere Grundlage für die weitere ambulante Behandlung und Betreuung der Patienten in der Primärversorgung zu schaffen. Denn diese wird für viele Patienten auch nach der Teilnahme notwendig und wichtig sein.

Online
Lesen Sie ein Interview mit Dr. Corredorová zu ihren Erfahrungen mit der Schmerztherapie

Autoren
Dr. med. Anke Preißler
Dr. rer. medic. Dipl.-Psych. Anne Gärtner
Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Ulrike Kaiser
UniversitätsSchmerzCentrum Dresden

MUDr. Milena ­Corredorová
MVZ am Universitätsklinikum
Carl Gustav Carus Dresden

PD Dr. med. Christian Geber
DRK Schmerz-Zentrum Mainz

Dr. Gabriele Lindena
Thomas Isenberg
Deutsche Schmerzgesellschaft e. V.

Dr. med. Ursula ­Marschall
BARMER

Prof. Dr. med. Frank Petzke
Leonie Schouten
Franziska Adler
Schmerzklinik
Universitätsmedizin Göttingen

Interessenkonflikte:
Die Autoren haben keine deklariert.

1 Häuser W et al.: Chronic pain, pain disease, and satisfaction of patients with pain treatment in Germany. Results of a representative population survey. Schmerz 2014; 28: 483–92

2 Preißler A et al.: Wie kann der ärztliche Eindruck verifiziert werden? Der Allgemeinarzt 2021; 43 (7): 14–6

3 Kongsted A et al.: Prediction of outcome in patients with low back pain – A prospective cohort study comparing clinicians‘ predictions with those of the Start Back Tool. Man Ther 2016; 21: 120–7

4 Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung, AG der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz. 2017 (AWMF-Registernummer: nvl-007

5 Kaiser U et al.: Evaluation eines frühen interdisziplinären multimodalen Assessments für Patienten mit Schmerzen. Protokoll einer randomisierten kontrollierten Studie (PAIN2020). Der Schmerz 2021; 35 (4): 251–64

6 Lindena G et al.: Eingreifen, bevor es zu spät ist. Orthop Rheuma 2022; 25, 42–4

7 Nemier K et al.: Interdisziplinäres multimodales Assessment. Frühzeitige Diagnostik zur Verhinderung chronischer Schmerzen. Manuelle Medizin 2022; 60: 90–5


Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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