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29. Januar 2021

Schrittweise

Digitalisierung mit Hindernissen

Mit der Einführung der Telematik-Infrastruktur (TI) soll in der Zukunft allen Leistungserbringern im Gesundheitswesen ein gemeinsames, sicheres Datennetz zur Verfügung gestellt und ein Austausch untereinander ermöglicht werden. Doch für eine reibungslose elektronische Kommunikation müssen noch einige Hürden überwunden werden.

Bisher sind erst etwa 80 % der Arztpraxen an das neue Datennetz angeschlossen, der Rollout in den Apotheken hätte Ende September 2020 erfolgen sollen. Medizinische Daten werden darüber auf absehbare Zeit auch noch nicht ausgetauscht. Als einzige Anwendung unterstützt die TI aktuell nur den Versichertenstammdatenabgleich (VSDM), bei dem die Daten der eingelesenen Versichertenkarten mit den Datenbeständen der Kostenträger abgeglichen werden.

eMedikationsplan und Notfalldatenmanagement ante portas

Die nächsten Anwendungen der TI werden der elektronische Medikationsplan (eMP) und das Notfalldatenmanagement (NFDM) sein. Der Notfalldatensatz enthält einen kleinen Datensatz mit Medikation, Diagnosen und einigen medizinischen Informationen, der von Ärzten auf die Versichertenkarte gespeichert wird. Im Notfall kann er so zum Beispiel vom Rettungsdienst gelesen werden. Der elektronische Medikationsplan ersetzt den papiergebundenen „Bundeseinheitlichen Medikationsplan“ und kann sowohl von Arztpraxis als auch Apotheke erstellt und aktualisiert werden. Durch die vollständige Liste der Medikation eines Patienten erhofft man sich eine Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit.

Leider unterstützen aktuell nur sehr wenige Praxisverwaltungssysteme das Lesen und Schreiben von eMP und NFDM, da die Umsetzung für die Hersteller nicht verpflichtend ist. Auch müssen Patienten bei ihren Kostenträgern eine PIN für ihre Versichertenkarte beantragen. Es wird also noch eine Weile dauern, bis Medikationspläne und Notfalldatensätze in der freien Wildbahn in größeren Zahlen gesichtet werden.

„Kommunikation im Medizinwesen“ als zentraler Dienst

Über den Dienst „Kommunikation im Medizinwesen“ (KIM) soll künftig die gesamte elektronische Kommunikation im Gesundheitswesen laufen. KIM löst bisher genutzte Dienste, wie zum Beispiel KV-Connect, ab. Im Grunde ist KIM nichts anderes als ein E-Mail-Programm, über das medizinische Dokumente als digitale Anhänge verschickt werden. Der Unterschied zur normalen E-Mail ist, dass KIM-Nachrichten verschlüsselt, mit einer elektronischen Signatur versehen und innerhalb der TI verschickt werden. Durch diese Maßnahmen soll die Sicherheit der Datenübertragung gewährleistet sein. Um KIM nutzen zu können, benötigt jeder Heilberufler einen elektronischen Heilberufeausweis (HBA), denn dieser enthält den persönlichen Schlüssel für die Verschlüsselung eben dieser Nachrichten. Soll ein Dokument ver- oder entschlüsselt werden, wird der HBA in ein Kartenterminal gesteckt und der Zugriff durch Eingabe der persönlichen PIN freigegeben. Die Verwendung von KIM ist seit Januar 2021 verpflichtend.
Außerdem muss der Telematik-Zugang über einen eHealth-Konnektor erfolgen. Dies ist eine Weiterentwicklung der bereits in den Arztpraxen installierten sogenannten VSDM-Konnektoren. Gleichermaßen muss ein Vertrag mit einem KIM-Anbieter geschlossen und das Praxisverwaltungssystem entsprechend erweitert werden.

eArztbrief und eArbeitsunfähigkeitsbescheinigung: noch Lücken im Ablauf

Noch sind nicht alle technischen Komponenten verfügbar, die man benötigt, um Daten mit KIM versenden zu können. Aber die Uhr tickt – eigentlich dürfen elektronische Arztbriefe laut Gesetz schon seit dem 1. Juli 2020 nur noch über KIM verschickt und abgerechnet werden. Die Übergangsfrist lief zum Dezember 2020 aus. Ab Januar 2021 sollen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) nur noch elektronisch an die Kostenträger übermittelt werden. Jede AU wird dann als elektronischer Datensatz erstellt, vom Arzt mittels HBA signiert und verschlüsselt sowie tagesaktuell über KIM verschickt. Leider wurde der Prozess nicht vollständig digitalisiert, sodass die Übermittlung an Arbeitgeber und Versicherten bis 2022 weiter papierbasiert erfolgen muss.1

Die Übergangsfrist für die Einführung der elektronischen AU wurde aber bereits auf Herbst 2021 verschoben, da die technische Ausstattung aufgrund der umfangreichen, von den Anbietern zu leistenden Entwicklungs- und Zertifizierungsverfahren nicht rechtzeitig flächendeckend verfügbar sein wird.

eRezept – Technik noch in der Testphase

Gleiches gilt für das elektronische Rezept, das das rosafarbene Muster 16 ablösen und eigentlich im Sommer 2021 kommen soll. Aktuell gibt es etwa 50 Pilotprojekte, die in teilweise sehr kleinem Umfang verschiedene technische Lösungen testen. Für die Zukunft hat hier allerdings die gematik die Gestaltungshoheit für sich reklamiert.2 Nach ihrem Konzept erstellen Ärzte zukünftig Verordnungen als elektronische Datensätze, die an Server in der TI geschickt und dort gespeichert werden. Patienten erhalten einen Abrufcode, entweder als Nachricht auf ihr Smartphone oder in der Praxis als Ausdruck. Sie können dann den Abrufcode an die Apotheke ihrer Wahl versenden oder diesen dort vorzeigen. Apotheker rufen damit die Daten des Rezeptes von den Servern der TI ab und können das Rezept anschließend beliefern.
Dass dieser Prozess ab 2021 großflächig laufen wird, darf getrost bezweifelt werden. Erst müssen Anforderungen an die Entwicklung der Verordnungssysteme erstellt und umgesetzt sowie alle Systeme aufwändig bei der KBV zertifiziert werden. Bis die ersten eRezepte in größerem Umfang aus den Praxen rollen, wird es eher noch drei bis fünf Jahre dauern.

Archiv- und Wechselschnittstelle für einfachen Systemwechsel

Die Einführung des Bundeseinheitlichen Medikationsplans 2017 hatten einige Hersteller von Praxisverwaltungssystemen zum Anlass genommen, hohe Gebühren von den Praxen zu verlangen. Als Konsequenz hatte der Gesetzgeber beschlossen, den bestehenden „Lock-in“ der Praxen in ihre installierte Software aufzubrechen. Dazu wurde im § 291 d Abs. 1 SGB V die Einführung der „Archiv- und Wechselschnittstelle“ (AWS) beschlossen. Diese soll es Praxen ermöglichen, ihre bestehenden Patientendaten auf ein anderes System zu transferieren und dadurch den Systemwechsel enorm zu vereinfachen. Diese Schnittstelle ist verpflichtend von allen Herstellern umzusetzen und soll im Sommer 2021 zur Verfügung stehen.3

Arzneimittelschnittstelle für erleichterte Suche in Arzneimitteldatenbanken

Zusätzlich wurde die Öffnung von Praxisverwaltung und Arzneimittelverordnung beschlossen. Aktuell ist eine Praxis noch gezwungen, zur Arzneimittelverordnung die Datenbank des Herstellers ihrer Praxisverwaltung zu verwenden. Mit der neuen Arzneimittelschnittstelle wird es der Praxis künftig möglich sein, sich eine beliebige Arzneimitteldatenbank auszusuchen und diese mit ihrer vorhandenen Praxisverwaltung zu verbinden. Dabei wird es explizit auch möglich sein, Online-Arzneimitteldatenbanken anzubinden. Für die Praxen entfällt somit das Einspielen von Updates für Arzneimitteldaten alle 14 Tage. Die Schnittstelle wird zum Jahreswechsel verfügbar sein.

Hürden erschweren reibungslose und zeitnahe Umsetzung

Im Vergleich mit anderen Lebensbereichen liegt die Digitalisierung im Gesundheitswesen sicher um 15 Jahre zurück. Die Gründe sind vielfältig. Im Vergleich mit der Industrie, wo beispielsweise Hersteller und Zulieferer ein gemeinsames Interesse daran haben, Prozessabläufe und Datenflüsse möglichst schnell und günstig zu gestalten, gibt es im Gesundheitswesen viele Akteure, die sich gegenseitig zutiefst misstrauen und ihre Daten eigentlich nicht teilen möchten. Das beste Beispiel sind Ärzteschaft und Kostenträger.
Hinzu kommen besonders hohe Anforderungen an die Sicherheit von Prozessen und Daten – schließlich geht es hier um Menschenleben. Das bedeutet, dass digitale Anwendungen bestimmten, definierten Anforderungen genügen müssen. Allein die aktuellen Spezifikationen und Festlegungen der gematik für die TI umfassen 8215 DIN-A4-Seiten, die der schnellen Entwicklung innovativer Lösungen entgegenstehen. Ebenso aufwändig ist der Zertifizierungsprozess für diese Lösungen. Für die Prüfung der Verordnungssoftware ist beispielsweise ein ganztägiger Vor-Ort-Termin bei der KBV in Berlin erforderlich, bei dem das Verhalten des Systems in Augenschein genommen wird – bei 100 Systemen benötigt das allein mehrere Personenjahre.
Auch fallen Nutzen und Kosten digitaler Systeme im Gesundheitswesen nicht immer zusammen. Komplexe und langwierige Verhandlungen über Erstattungen verzögern die Einführung von nützlichen Lösungen. Die Politik mit ihren ganz eigenen Erwartungen mischt natürlich ebenfalls kräftig mit und hat über ihre Mehrheit in der gematik auch die Möglichkeit, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Schnelle Veränderungen sind in dieser Gemengelage schwierig.

1 www.medical-tribune.de/praxis-und-wirtschaft/ehealth/artikel/ab-2021-wird-die-krankschreibung-digital-aber-nicht-einfacher/
2 www.gematik.de/anwendungen/e-rezept/
3 www.kbv.de/html/35632.php


Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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