
29. August 2022
Betreuung von Migranten in der Praxis
Geduld, Zeit und Verständnis
Die Lebenserfahrung und damit die Kultur bestimmt, wie Patienten über Krankheiten sprechen und was sie von einem Arzt erwarten. Wenn sich Kulturen unterscheiden, können in der Arztpraxis Missverständnisse und Probleme entstehen. Wie sie sich vermeiden lassen, weiß Dr. Rahim Schmidt, Allgemeinarzt in Mainz.
Wie war es für Sie, als Sie vor 44 Jahren aus dem Iran nach Marburg kamen?
▸▸▸R. Schmidt: Am 23.09.1978 gegen 09:15Uhr kam ich in Marburg am Hauptbahnhof an. Ich hatte eine Woche Busreise aus dem Iran hinter mir. Der Abschied zu Hause in Miana, besonders von meiner Mutter, war mir sehr schwergefallen. Aber ich wollte spätestens nach sechs Jahren wieder zurück sein. Ein halbes Jahr nach meiner Ankunft entstand die Islamische Republik Iran und ich konnte nicht mehr zurückkehren. Deswegen musste ich auf Knopfdruck erwachsen werden und arbeiten gehen, damit mein Aufenthalt verlängert werden konnte. Die Deutschen waren hilfsbereit, neugierig, gastfreundlich und zuverlässig. Ich habe täglich 18 Stunden Deutsch gelernt, Menschen in Gespräche verwickelt, Zeitung gelesen und Nachrichten gehört. Nach sechs Monaten bestand ich die Sprachprüfung und nach neun Monaten die Prüfung für das Studienkolleg.
Warum können kulturelle Unterschiede beim Arztbesuch Schwierigkeiten bereiten?
▸▸▸R. Schmidt: Es gibt nicht den Deutschen, den Migranten, die Kultur, denn Kultur ist Lebenserfahrung und wir haben alle unterschiedliche Lebenserfahrungen. Die Unterschiede können sehr groß sein und zu Missverständnissen führen: Wenn ein deutscher Manager in Saudi-Arabien Geschäfte macht und an einer Tee-Zeremonie teilnimmt, wird er vielleicht ungeduldig, weil er den Vertrag schnell besprechen und unterschreiben möchte. Das kennt er so. Und wenn ein Migrant bei mir in der Sprechstunde ist, erfordert das eben auch Geduld, Zeit und Verständnis für Sprachschwierigkeiten und die andere Kultur, auch wenn das vielleicht der hiesigen Vorstellung von effektivem Arbeiten nicht entspricht.
Migranten sprechen oft eher verallgemeinernd, zweideutig, blumig oder in Form von Metaphern über ihre gesundheitlichen Probleme. Und viele weitere Aspekte sind wichtig: Was empfindet der Patient als höflich und rücksichtsvoll, wie drückt er dem Arzt seinen Respekt aus und wie geht er mit intimen, möglicherweise schambehafteten Lebensbereichen um? Für alle kulturellen Unterschiede in diesen Bereichen gilt: Wenn ich etwas mehr Zeit und Mühe investiere, vertraut der Patient mir, fühlt sich wohl und gut behandelt. Das wiegt in meinen Augen bei Weitem auf, was ich investiert habe. Es erhöht die Compliance, verringert die Komplikationen und senkt Kosten.
Warum ist die Familie für viele Migranten so wichtig?
▸▸▸R. Schmidt: Die Mitglieder von Familiengesellschaften, ganz besonders die aus der Unterschicht, haben oft keine gesicherte Existenz. Sie stützen sich in erster Linie auf Familienangehörige und pflegen den Kontakt zu ihnen durch eine besondere Kommunikation. Sie regelt, wie Beziehungen gepflegt und aufgebaut werden. Diese Menschen haben keine Versicherungen oder Ersparnisse, sie hoffen darauf, dass Verwandte, zum Beispiel gesunde Kinder, Geld nach Hause bringen. Die Familie hält zusammen, steht füreinander ein, das ist die Tradition. Wird jemand krank, begleitet die Familie ihn in die Praxis. Die Familie kann helfen, Sprachprobleme zu überwinden, und kann in das Therapiekonzept eingebunden werden. Sie ist eine wichtige Ressource und man weiß, dass die Heilungschancen besser sind, wenn die Familie den Patienten unterstützt.
Welche praktischen Lösungen gibt es für Sprachprobleme?
▸▸▸R. Schmidt: Relativ einfach ist es, wenn Freunde und Verwandte übersetzen, aber das bringt auch Probleme mit sich: Möglicherweise werden die Aussagen des Arztes abgeschwächt, damit keine schlechte Nachricht überbracht werden muss, oder es kann schwierig sein, durch einen Verwandten über schambehaftete Themen zu sprechen. Übersetzungs-Apps auf dem Handy können da helfen, auch das Internet, professionelle Dolmetscher oder der „Medguide“, ein medizinischer Sprachführer für Allgemeinärzte.
Gibt es deutsche Eigenheiten im Umgang mit dem Arzt und der Gesundheit, die Patienten anderer Nationalitäten möglicherweise nicht haben?
▸▸▸R. Schmidt: Es gibt nicht dieses oder jenes Verhalten, dennoch mache ich die Erfahrung, dass die Einheimischen meistens sehr konkret über ihre Beschwerden und ihre Erwartungen sprechen. Sie sind oft an Fachinformationen und Überweisungen an Fachärzte interessiert. Gelegentlich legen sie ihre ganze Akte auf den Tisch und sagen: Das sind meine Befunde, schauen Sie sich die bitte mal an. Ich habe dieses und jenes Problem und möchte das gelöst haben.
Migranten sind bei ihrer Schilderung oft nicht so zielgerichtet, sie springen von Organ zu Organ, und ein nicht so erfahrener Arzt findet nur schwer heraus, warum der Patient eigentlich in der Praxis ist. Migranten wollen häufig emotionale Aufmerksamkeit. Haben sie die erhalten, vertrauen sie dem Arzt und können den therapeutischen Vorschlag des Arztes annehmen. Der Deutsche beschwert sich gerne und sucht Probleme, der Migrant hingegen klagt sein Leid und erwartet, dass der Arzt ihn heilt, ohne dass er mitwirken muss.
Wie reagieren Sie, wenn ein Patient viele Begleiter mitbringt?
▸▸▸R. Schmidt: Ich nehme freundlich Blickkontakt auf und begrüße alle, dann sehe ich den Ältesten an und frage, wer denn krank ist. Erstmal steht also die Familie im Mittelpunkt, sie ist die erste Kontakt- und Kommunikationsstelle. Ärzte fragen mich oft: „Wie soll ich denn mit so vielen Menschen auf einmal zurechtkommen?“ Man muss nicht mit jedem einzeln sprechen, sondern die gesamte Familie freundlich begrüßen. Man kann auch fragen: „Wie geht’s denn der Oma?“ oder etwas Ähnliches. Das gehört in vielen Kulturen dazu, das wird erwartet und signalisiert Wertschätzung. Dann frage ich: „Wer ist denn heute krank?“, bedanke mich bei der Familie dafür, dass sie den Patienten nicht allein gelassen haben, und sage etwas wie: „Ich muss mich aber jetzt auf ihn konzentrieren, damit er wieder gesund wird, alle anderen können wieder nach Hause gehen. Der Tee zuhause ist bestimmt noch warm.“ Die Familie ist eine große Ressource dieser Menschen, daher versuche ich, sie auch in Therapie und Verlaufskontrolle einzubinden. Besonders wenn der Patient nicht lesen kann, ist das sehr wichtig.
Betrachten wir nochmal den Punkt Vertrauen: Was konkret tun Sie, um das Vertrauen des Patienten zu gewinnen?
▸▸▸R. Schmidt: Am wichtigsten ist eine freundlich-empathische Begrüßung. Sie können dem Patienten dann im Sprechzimmer einen Platz anbieten, sich selbst hinsetzen und den Blickkontakt aufrechterhalten. Das signalisiert Aufmerksamkeit. Sie können seine momentane emotionale Befindlichkeit mit Respekt und in Ruhe wahrnehmen. Dann frage ich: „Was kann ich heute für Sie tun?“ Empathie, fachkompetente Erklärungen und Ehrlichkeit, das alles schafft Vertrauen und zeigt in den Augen dieser Menschen Kompetenz, auch menschliche Kompetenz. Das zusammen verbessert die Compliance. Abendländische Menschen legen mehr Wert auf die Sachebene: „Ich möchte erstmal abwarten, was der Radiologe sagt.“ Aber weder das eine noch das andere ist in Reinform das Wahre, man muss beides zusammenbringen. Das, finde ich, ist die Kunst.
Interview:
Roland Müller-Waldeck
▸▸▸ Literaturtipp zum Thema Migranten als Patienten www.allgemeinarzt.digital/search?s.text=migranten
▸▸▸Unser Interviewpartner
Dr. agr. Dr. med. Rahim Schmidt
Arzt für Allgemeinmedizin Uniklinikum Mainz
Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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