
13. Oktober 2023
Psychosoziale Unterstützung für Ärztinnen und Ärzte (Teil 1)
Hilfe bei tätigkeitsbedingten Traumafolgestörungen
Laut Fehlzeitenreporten der Krankenkassen stieg 2022 und im ersten Halbjahr 2023 die Zahl der psychisch bedingten Krankschreibungen auf ein Rekordniveau. Gesundheitspersonal steht dabei erschreckenderweise an der Spitze im Vergleich der Branchen.1
Die Allgemeinmedizin spielt bei berufsbedingten psychischen Belastungen des medizinischen Personals eine zentrale Rolle.Hausärztinnen und Hausärzte sind häufig die Erstanlaufstelle bei der Begleitung von psychisch belasteten Kolleginnen und Kollegen. Darüber hinaus sind sie als wichtige Chance für eine rasche Genesung im Kontext von Traumafolgestörungen zu nennen. Mitarbeitende im Gesundheitswesen sind zudem eine Hochrisikogruppe hinsichtlich der Entwicklung von Traumafolgestörungen nach berufsbezogenen schwerwiegenden Ereignissen (dramatische Todesfälle, Involviertsein in Komplikationen, Reanimationen besonders von Kindern, Gewalterfahrung u.a.).2 Daher werden im Folgenden wichtige Aspekte zu deren Bewältigung in den Blick genommen.
Psychische Traumafolgestörungen
Für die Medizin werden persönliche und systemische Überlastungen, traumatische Ereignisse, aber auch alltägliche und niederschwellige Belastungen seit Jahrzehnten regelmäßig aufgezeigt.3
Ein Beispiel: In einem MVZ kommt es zu einem gewaltsamen Angriff auf eine Ärztin durch den Angehörigen einer Patientin. Die Ärztin wird dabei am Kopf verletzt. Ein D-Arzt nimmt den somatischen Arbeitsunfall auf, beurteilt ihre Arbeitsfähigkeit positiv. Die Ärztin versucht am nächsten Tag – nach einer schlaflosen Nacht – zu arbeiten, bricht dies aber ab. Ihre Hausärztin schreibt sie krank. Psychische Symptome finden weder hier noch im D-Arztbericht Erwähnung. Tatsächlich leidet die betroffene Ärztin seit dem Angriff aber unter quälenden Erinnerungen an die Situation (laut schreiender Angehöriger, davoneilende Pflegekraft), Ängsten und vegetativer Unruhe.
Auch durch das Erleben schwerwiegender Ereignisse auf Patientenseite können traumarelevante Reaktionen auftreten. Ein Review zu insgesamt 32 Studien zeigt die Relevanz der psychischen und physischen Belastung auf.4 Häufig berichtete Reaktionen sind Gefühle von emotionaler Taubheit, Entfremdung, Depersonalisierung, Konfusion, Ängstlichkeit, Trauer/Kummer, Depression, Agitiertheit und ein Wiedererleben der Situation.
Hier ein weiteres Beispiel: Ein gynäkologischer Kollege merkt nach einer dramatischen Situation im Kreißsaal, dass er nur unter großer Angst mit entsprechender körperlicher Begleitsymptomatik weiterarbeiten kann, und fühlt sich am Folgetag außerstande, in die Arbeit zu gehen. Er sollte nun nicht „gutgemeint“ unter einer anderen Diagnose krankgeschrieben werden.
Das Psychotherapeutenverfahren der Unfallkassen5
In Allgemeinarztpraxen werden die Weichen gestellt.
Eine psychische Verletzung im Kontext der Berufstätigkeit ist ein Arbeitsunfall.
Die Unfallkassen bieten im sogenannten Psychotherapeutenverfahren eine unkomplizierte und rasche Hilfe bei posttraumatischen Reaktionen nach Arbeitsunfällen.
Ansprechpartner für nähere Informationen zum Psychotherapeutenverfahren ist der regional zuständige Landesverband unter: www.dguv.de/landesverbaende/de/index.jsp
Logisch gehören beide Fälle in das anerkannte System der Unfallversicherungsträger mit Psychotherapeutenverfahren und nicht ins Krankenkassensystem unter vermeindlich schützender Diagnose. Hier sollten wir alle dafür sorgen, dass das Wissen verbreitet wird, dass auch die psychische Verletzung ein Arbeitsunfall ist, für den eine zügige Behandlung vorgehalten wird.5
Traumafolgestörungen können sehr gut behandelt werden. Unbehandelt können sie jedoch eine Vielzahl von Komplikationen, zum Beispiel Suchterkrankungen, nach sich ziehen.
Möglichkeiten der Bewältigung
Zwar beginnt Bewältigung mit dem Wissen darüber, welche Unterstützungsmöglichkeiten für den Fall der Fälle vorgehalten werden. Häufig aber wollen Kolleginnen und Kollegen nicht krankgeschrieben werden, sondern weiterarbeiten, um den Bezug zum Team oder den Patienten nicht zu verlieren. Empfohlen werden daher unter anderem primärpräventive Informationen, die das individuelle Wissen über einen funktionalen, heilenden Umgang mit den seelischen Auswirkungen von Extrembelastungen fördern.
Zu den grundlegenden Aspekten der Bewältigung von schwerwiegenden Ereignissen daher im Folgenden einige Ansatzpunkte, die den Kolleginnen und Kollegen bereits helfen können:
Abstand zu finden ist ein erster Schritt, um wieder Sicherheit zu erlangen. Dabei helfen zum Beispiel bewusste Wahrnehmung, Überkreuzübungen oder bewusste Konzentration. Warum? Bewusstes Wahrnehmen, konzentriertes Koordinieren und mentales Fokussieren finden im Kortex statt. Diese Prozesse sind nicht kompatibel mit Gefühlen wie Angst und körperlichen Alarmreaktionen, welche in der Amygdala stattfinden. Unser Gehirn kann diese Areale sehr schnell hintereinander, aber nicht gleichzeitig aufrufen. In dieser Weise helfen zum Beispiel das Erspüren eines Kronkorkens in der geschlossenen Faust, das Riechen an etwas Beißendem wie Tigerbalsam, eine liegende Acht zu malen oder mit überkreuzten Armen abwechselnd auf die rechte und die linke Schulter zu klopfen.
Versuchen Sie es: Wenn Sie sich ganz auf diese Übungen konzentrieren, ist es unmöglich, zeitgleich Emotionen zu haben. Derartige Übungen lassen sich daher nutzen, um aus Stressreaktionen herauszukommen. Die Unterbrechung ermöglicht, zu überlegen, was jetzt hilfreich wäre und Sicherheit vermitteln würde, etwa ein Gespräch, ein Spaziergang, ins Handeln zu kommen.
Auch dieBewältigung des Alltags generiert Sicherheit und das Vertrauen in sich selbst und die eigenen Fähigkeiten. Hilfreich ist hier:
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eine gute Struktur aufrechtzuerhalten (besonders, wenn Betroffene für einige Tage nicht arbeitsfähig sind)
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Stress zu reduzieren
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viele Pausen einzurichten (auch in der Arbeit)
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sich möglichst viel zu bewegen (aber nicht bis zum Runner’s High)
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zu tun, was guttut; bewusst die eigenen Ressourcen zu aktivieren, selbst wenn man sich zurückziehen möchte – auch Arbeit kann eine Ressource sein
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gesunde Ernährung
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soziale Kontakte
Die Auseinandersetzung mit dem schwerwiegenden Ereignis (in der Literatur auch Konfrontation genannt) dient der Verarbeitung der Erfahrung. Die Gedanken bezogen auf das Ereignis, die Gefühle, die damit verbunden sind, das eigene Verhalten im Kontext des Ereignisses, die Geschehnisse, die dazu geführt haben… all diese Puzzlestücke zusammenzusetzen, sich mit all diesen Elementen auseinanderzusetzen ist die eigentliche Verarbeitung des schwerwiegenden Ereignisses.
Hirnphysiologisch ändert sich dadurch der Ort der Speicherung der Erfahrung. Die Erinnerungen sind nach einer derartigen systematischen Auseinandersetzung überwiegend hippocampal prozessiert und nicht mehr dominant amygdal (und damit von impliziten in explizite Gedächtnisstrukturen übergeführt). Dadurch verliert das Ereignis den unkontrollierbaren Schrecken, kann zeitlich eingeordnet, objektiv bewertet und von funktionalen Gefühlen begleitet werden.
Umsetzung von psychosozialer Unterstützung (PSU) in Einrichtungen des Gesundheitswesens
Sich der Thematik zuzuwenden und sie nicht zu verdrängen ist ein erster wichtiger Schritt. „Wissen schützt vor Belastung.“6 Dieses Wissen für die Patienten und uns selbst zu nutzen ist der nächste.
Verschiedene Branchen, beispielsweise Feuerwehren, Polizei oder die Deutsche Bahn, bilden schon seit vielen Jahren kollegiale Unterstützer (Peers) für ein sehr niederschwelliges, zeitnahes Angebot aus. Man will die Chance nutzen, durch ereignisunabhängige Wissensvermittlung, schnelle Begleitung im Ereignisfall und ggf. Weitervermittlung zu anderen Unterstützungsangeboten eine Erkrankung abzumildern oder zu verhindern. Auch im Gesundheitswesen setzt sich zunehmend das Konzept einer kollegialen Unterstützung, „Peer-Support“, durch, um der Entwicklung von tätigkeitsbedingten Traumafolgestörungen zu begegnen.7
Veröffentlichungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) zum Thema:
Trauma – Psyche – Job. Ein Leitfaden für Aufsichtspersonen: bit.ly/44HtoiS
Standards in der betrieblichen psychologischen Erstbetreuung (bpE) bei traumatischen Ereignissen: bit.ly/3P0Y4FX
Für Praxen und MVZ, die kein eigenes Peer-Support-System aufbauen können, gibt es neben dem Psychotherapeutenverfahren der Unfallkassen8 das Angebot des gemeinnützigen Vereins PSU-Akut e.V., der mit Unterstützung vonseiten der Bayerischen Landesärztekammer und des Bayerischen Gesundheitsministeriums die PSU-HELPLINE anbietet und eine Fach- und Koordinierungsstelle aufbaut.9
Im zweiten Teil dieses Artikels wird beispielhaft die Arbeit von PSU-Akut e.V. als ein etabliertes Konzept psychosozialer Unterstützung für Mitarbeitende im Gesundheitswesen vorgestellt.
Autoren
Dr. phil. Marion Koll-Krüsmann
Psychologische Psychotherapeutin, Lehrtherapeutin und Supervisorin
Fachliche Leitung PSU-Akut e. V.
München
Dr. med. Andreas Schießl
Facharzt für Anästhesiologie, Notfallmedizin
Ärztlicher Leiter PSU-Akut e. V.
Strategischer Coach, CIP
Lehrbeauftragter an der LMU München (Krisenmanagement)
Interessenkonflikte:
Die Autoren haben keine deklariert.
Literatur:
1. www.pharmazeutische-zeitung.de/psychisch-bedingte-krankschreibungen-auf-rekordniveau-138739/
2. Hinzmann D et al.: „Let‘s talk about … us“. Die Situation an deutschen Klinken mit Blick aus der Anästhesiologie und Intensivmedizin vor der Covid-19-Pandemie. BDA-Befragung zur psychosozialen Unterstützung in der Akutmedizin im Herbst 2019. Anästh Intensivmed 2021; 62(3): 92–100
3. Teufert S, Bercker S: Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin. In: Marx, G., Muhl, E., Zacharowski, K. & Zeuzem, S. (Hrsg.), Die Intensivmedizin (SpringerMedizin/e.Medpedia), Berlin, Heidelberg, 2022; verfügbar unter: www.springermedizin.de/emedpedia/die-intensivmedizin/psychosoziale-situation-und-psychologische-betreuung-in-der-intensivmedizin?epediaDoi=10.1007%2F978-3-642-54675-4_3 (Zugriff am 09.08.23)
4. Schwappach DL, Boluarte TA: The emotional impact of medical error involvement on physicians: A call for leadership and organisational accountability. Swiss Med Wkly 2009; 139(1–2): 9–15
5. BGW Psychotherapeutenverfahren: www.bgw-online.de/bgw-online-de/service/unfall-berufskrankheit/unfaelle-psychische-beeintraechtigungen/hilfe-nach-extremerlebnissen-14672
6. Krüsmann M et al.: Psychosoziale Prävention im Einsatzwesen. In: Bronisch, T. & Sulz, S. (Hrsg.) Krisenintervention und Notfall in Psychotherapie und Psychiatrie. München: CIP-Medien (2009): 167–82
7. Hinzmann D et al.: Peer-Support in der Akutmedizin. Anästh Intensivmed 2019; 60: 95–101
8. Koll-Krüsmann M et al.: Psychosoziale Unterstützung im Gesundheitswesen. Der gemeinnützige Verein PSU-Akut – eine Schnittstelle zwischen kollegialer Unterstützung und Psychotherapie. Ärztliche Psychotherapie 2021; 16(2): 87–92
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