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13. März 2023

Niedergelassen auf dem Land – die Erfahrungen einer Hausärztin

Ein Resümee nach zwei Jahren

Cathrin Adderson-Kühner ist niedergelassene Allgemeinärztin im bayerischen Landkreis Miltenberg am Main. Im Januar 2021 hatte sie den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt und ihre Praxis auf dem Land eröffnet. Im Interview erzählt sie von den Herausforderungen der Selbstständigkeit, dem Geheimnis guter Teamführung und Glücksmomenten mit ihren Patienten.

Frau Adderson-Kühner, Ihre persönliche Einschätzung: Welche Vorteile hat die Niederlassung als Ärztin, welche Vorteile hat eine Anstellung?

▸▸▸ Cathrin Adderson-Kühner: Ein klarer Vorteil der Niederlassung ist für mich ein gewisser Freiheitsgrad, also dass ich – natürlich in gewissen Grenzen durch die Vorgaben von KV und Kassen, aber auch der Leitlinien – frei entscheiden kann, wie ich die Behandlung meiner Patienten gestalte. Und ich kann selbst festlegen, was ich anbieten möchte. Bei mir finden die Patienten z. B. das Maximalangebot, das beim Hausarzt möglich ist, also auch die Ergometrie oder Sonographie, das ist aber jedem selbst überlassen. Der Vorteil einer Anstellung ist natürlich, dass die ganze Bürokratie der Praxis wegfällt, die Bezahlung klar geregelt ist und dass das finanzielle Risiko und die Investitionen wegfallen, die der Niedergelassene hat. Auch das Arbeiten in Teilzeit ist in der Anstellung leichter möglich. Eine Vollzeitstelle als Selbstständige bedeutet dagegen eher eine 50-Stunden-plus-Woche.

Wie kann man als Hausärztin Beruf und Familie miteinander vereinbaren?

▸▸▸ Cathrin Adderson-Kühner: Für mich eine schwierige Frage, weil ich keine Kinder habe. Tatsächlich sind in meinem Umfeld die meisten Kollegen in Vollzeit männlich und deren Frauen arbeiten in Teilzeit. Die einzige andere weibliche Vollzeitkollegin hat ihr Kind schon im Studium bekommen – da war das Kind bei Praxisgründung schon älter. Was einige der jüngeren Kolleginnen hier machen, ist, sich einen Kassensitz zu teilen – eine arbeitet z. B. vormittags, die andere nachmittags. Einen ganzen Kassensitz zu stemmen, wenn man junge Kinder hat und einen Mann, der auch in Vollzeit arbeiten möchte, stelle ich mir eher schwierig vor. Deshalb scheinen die geteilten Sitze auch hier bei uns die Zukunft der weiblichen Kolleginnen zu sein. Das haben uns die Psychologinnen ja schon vorgemacht.

Haben Sie über den Anschluss an bzw. eine Anstellung in einem MVZ nachgedacht? Sind MVZs die Zukunft der hausärztlichen Versorgung?

▸▸▸ Cathrin Adderson-Kühner: Ich habe vor der Praxisgründung tatsächlich darüber nachgedacht. Bei uns auf dem Land kommt das Denken in Richtung MVZ ja erst jetzt so langsam ins Rollen – da ist man in den Städten schon viel weiter. Im Nachbarort wird z. B. überlegt, ein MVZ mit einem Investor zu gründen. Mir persönlich wäre das Arbeiten dort aber zu wenig frei – nicht so sehr hinsichtlich der Behandlung, eher in Bezug auf die anderen Vorgaben bzw. den Abstimmungszwang, z. B. bei Investitionen. Generell empfinde ich MVZs aber schon als Ding der Zukunft, da sich viele Frauen eben nicht mehr niederlassen wollen, sondern lieber als Angestellte einen gewissen Grad an Freiheit genießen, ohne die ganze bürokratische Last schultern zu müssen. Am besten finde ich persönlich aber MVZs, die von Ärzten geleitet werden, nicht von Investoren, bei denen der Erfolg davon abhängt, wie gut sie sich im Medizinsektor auskennen. Denn die Fokussierung auf Gewinnmaximierung ist in unserem Bereich oft problematisch.

Spüren Sie in Ihrer Praxis den Hausärzte-/Landärztemangel?

▸▸▸ Cathrin Adderson-Kühner: Definitiv! Es haben hier ältere Kollegen aufgehört, die keinen Nachfolger gefunden haben. Und diese Patientenwelle haben wir verbliebenen Hausärzte ganz deutlich gespürt, das war über drei bis vier Monate wirklich heftig. Wir haben zwar versucht, möglichst viele – gerade chronisch Kranke – aufzunehmen, aber nicht wenige müssen tatsächlich weite Wege auf sich nehmen, um versorgt zu werden. Tatsächlich mussten wir zum Teil Hausbesuchspatienten ablehnen, weil wir das von unseren Kapazitäten her einfach nicht mehr leisten konnten. Akut Kranke schauen wir uns natürlich an, aber eben als Notfallvertretung. Zur dauerhaften Übernahme sind wir nicht verpflichtet.

Ein fast noch größeres Problem ist für uns Miltenberger Hausärzte aber gerade, dass ein Kinderarzt in den Ruhestand geht und keinen Nachfolger findet. Denn bei der Behandlung von Kindern sehe ich für mich ganz klar eine Grenze. Ab einem Alter von 15–16 Jahren kann man als Hausarzt ganz gut die Behandlung übernehmen, aber die feste Aufnahme von kleinen Kindern stellt ein Problem dar. Alleine schon deswegen, weil wir die U- und J-Untersuchungen ja gar nicht mehr machen dürfen.

Warum ist es so schwer, einen Nachfolger zu finden?

▸▸▸ Cathrin Adderson-Kühner: In ländlichen Gegenden hat das zum Teil sicherlich auch mit den Entfernungen zu tun. Miltenberg ist etwa 30 km von Aschaffenburg entfernt, und um Wertheim, die nächste etwas größere Stadt in Baden-Württemberg zu erreichen, fährt man auf kleinen Straßen durch den Wald. Die jungen Familien wollen in der Stadt wohnen und wohnortnah arbeiten, 30 bis 45 Minuten zu pendeln ist für viele nicht akzeptabel. Schwierig für uns – auch wenn unser Bürgermeister wirklich sehr engagiert ist. Tatsächlich ist ein Großteil von uns Hausärzten hier aufgewachsen und nach dem Studium zurückgekommen – einige sogar, um die Praxis von den Eltern zu übernehmen.

Was sind die besonderen Herausforderungen in Ihrem beruflichen Alltag?

▸▸▸ Cathrin Adderson-Kühner: Die Dokumentation ist ein Punkt, der viel Raum einnimmt und einen viel größeren Stellenwert hat als noch vor 20–30 Jahren. Und man muss wirklich sehr, sehr genau dokumentieren. Mein Diktiergerät war für mich tatsächlich eine der besten Investitionen. Und trotzdem: Wenn man alle Dokumentationszeiten zusammennimmt, also auch die der MFAs, sieht man, dass das locker 40–50% der gesamten Zeit, die man für einen Patienten hat, einnimmt. Und dann kommen noch andere Punkte wie die Abrechnung, Rückfragen der KV zu Abrechnungsziffern, das Zusammenstellen von Unterlagen für das Finanzamt und dergleichen dazu. Der Verwaltungsaufwand ist wirklich nicht zu unterschätzen.

Wie viel läuft bei Ihnen digital ab?

▸▸▸ Cathrin Adderson-Kühner: In unserer Praxis ist fast alles digital – bis auf Dinge wie Todesbescheinigungen, die wir in Papierform abheften müssen, oder Unterlagen aus dem Dienst. Aber wir haben keine Papierakten mehr, wie man es von früher kennt. Das war der große Vorteil, als ich vor zwei Jahren die Praxis von null weg angefangen habe – für mich die beste Entscheidung überhaupt –, dass ich alles von Grund auf anlegen konnte. Auch wenn das erste Jahr natürlich hart war, weil alle Patienten mit einem Stapel Vorbefunden in Papierform kamen. Aber wenn man erstmal alles digital vorliegen hat, läuft es super. Bisher hatten wir auch keine Probleme mit Ausfällen oder Ähnlichem, die Technik funktioniert, das Programm ist bedienerfreundlich.

Welche Erleichterungen durch die Politik würden Sie sich wünschen?

▸▸▸ Cathrin Adderson-Kühner: Vielleicht sollte der Zugang zum Studium nicht primär vom NC abhängen. Ich finde ich den sog. Medizinertest sinnvoll, auf den man sich bei gegebener Motivation vorbereiten kann. Das Nächste ist für mich der Punkt, dass die Medizin weiblicher wird. Immer weniger Männer scheinen Medizin studieren zu wollen, vielleicht weil der Weg recht lang ist und weil die Verdienstaussichten nicht mehr die gleichen sind wie in den 90ern oder 80ern. Und das merkt man bei der Nachfolgerfrage der vielen Kollegen, die jetzt in den Ruhestand gehen: Es gibt nicht mehr genug Ärzte, die sich mit einem kompletten Sitz niederlassen wollen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Teilzeitmodelle in der Niederlassung gestärkt werden, damit die Ärztinnen bei der Niederlassungsfrage nicht rausfallen. Und selbst unter den Männern geht der Trend ja langsam zu Teilzeitmodellen, Work-Life-Balance ist ja nicht nur eine Sache der Frauen.

Spüren Sie den oft beschriebenen Mangel an Medizinischen Fachangestellten? Was ist Ihr Rezept dagegen?

▸▸▸ Cathrin Adderson-Kühner: Ich muss sagen, dass ich bisher zum Glück keine Probleme damit habe. Aber ich höre durchaus Kollegen, die sagen, dass es nicht so leicht ist, Personal zu finden – v. a. bei größeren Praxen. Unser Team ist sehr stabil, aber das ist auch etwas, wofür ich mir Zeit nehme und mir Gedanken mache. Wir haben eine sehr offene Kommunikation und einen wertschätzenden Umgang miteinander. Es ist mir wichtig, dass jeder Einzelne gesehen wird, und ich frage auch oft aktiv nach. Vermutlich etwas, das ich aus meiner psychosomatischen Ausbildung mitgenommen habe. Wir haben zum Beispiel sehr viele Teamsitzungen, am Anfang sogar wöchentlich, dann zweiwöchentlich, monatlich und jetzt etwa zweimal im Quartal. Da setzen wir uns eine knappe Stunde zusammen und jeder bringt sich ein. Wichtig ist mir auch, dass wir uns über schwierige Situationen mit Patienten austauschen können, dass wir auch Trauriges, wie den Tod eines Patienten, im gemeinsamen Gespräch verarbeiten können – und natürlich gehört auch dazu, dass wir gemeinsam lachen können. Die Kommunikation ist einfach das A und O. Und das wird gut angenommen.

Ebenfalls wichtig ist natürlich eine adäquate Bezahlung. Ich bezahle übertariflich und es gibt ein bis zwei Extraumlagen pro Jahr. Das motiviert. Genauso die berufliche Förderung, dass man als Arbeitgeber auch Weiterbildungen bezahlt. Ich habe gleich zu Beginn einer MFA die Weiterbildung zur VERAH/NÄPA finanziert, und diese kann mich nun bei Hausbesuchen entlasten. Ausserdem achte ich beim gesamten Team auf die Work-Life-Balance.

Was sind Ihre Glücksmomente bei der hausärztlichen Tätigkeit?

▸▸▸ Cathrin Adderson-Kühner: Die Patienten, ganz klar! Ich betreue meine Patienten jetzt seit zwei Jahren und die Fluktuation ist sehr gering. Mit den meisten besteht inzwischen ein sehr vertrautes Verhältnis, man fängt nicht – so wie früher in der Klinik – bei jedem Patienten von vorne an, sondern man kennt sich – und lacht auch mal miteinander. Und das beobachte ich auch bei meinen MFAs. Das ist das Tolle an der Hausarztmedizin: Die Patienten vertrauen einem. Ein schönes Gefühl. Und wenn man dann sieht, was wir alles an Selbstgemachtem bekommen – alleine die vielen selbstgebackenen Kuchen – dann spürt man die große Dankbarkeit und das sind dann auch persönliche Glücksmomente. Ebenfalls als großes Glück empfinde ich, dass mein Ehemann als mein Praxismanager in die Praxis mit eingestiegen ist, und im allgemein-verwalterischen und finanziellen Bereich den allergrößten Teil übernimmt.

Und natürlich gibt es immer wieder diese besonderen Momente, wenn ich gemeinsam mit einem Patienten durch eine schwere Krankheit oder die Abklärung eines Malignomverdachts gegangen bin und am Ende sitzt der Patient dann wieder gesund vor mir oder der Krebsverdacht hat sich als Abszess entpuppt. Das sind dann echte gemeinsame Momente des Glücks.

Ich kann nur jedem allgemeinärztlichen Kollegen empfehlen, den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen, besonders im ländlichen Bereich. Es lohnt sich sehr!

Wir danken für das Interview! Das Interview führte Christine Adderson-Kisser


Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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