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22. August 2022

Ärztliche Behandlungsfehler

Schmerzensgeld bei grober Fahrlässigkeit

Wie wird das Schmerzensgeld in Arzthaftungssachen bemessen? Im folgenden Fall hat das OLG der Klägerin, einer Witwe, für den Tod ihres Mannes durch einen Behandlungsfehler ein relativ geringes Schmerzensgeld zugestanden, welches der BGH deutlich höher bemessen sehen wollte. Ausschlaggebend war hier die grobe Fahrlässigkeit.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Urteil vom 08.02.2022 (VI ZR 409/19) wesentliche Grundsätze zur Bemessung des Schmerzensgeldes in Arzthaftungssachen hervorgehoben.

Der Fall: Zögern bei Verdacht auf Herzinfarkt

Der 71-jährige Patient wurde nach Aspiration von Nahrung notfallmäßig im Krankenhaus aufgenommen. Ihm wurde Blut abgenommen. Um 15:07 Uhr erfolgte eine Röntgenaufnahme des Thorax, die darauf hindeutete, dass etwas mit dem Herzen nicht in Ordnung war. Um 15:33 Uhr wurde ein EKG aufgezeichnet, das ST-Streckensenkungen zeigte, die einen Herzinfarkt sehr nahelegten. Der auswertende Arzt dokumentierte ein „pathologisches“ Ergebnis und vermerkte „Posteriorinfarkt möglich“, differentialdiagnostisch „Vorderwandischämie“. Die um 15:37 Uhr vorliegenden Laborwerte zeigten einen deutlich erhöhten Troponinwert. Der Patient wurde auf die Normalstation verlegt. Gegen 16:30 Uhr kam es zu einer kardialen Dekompression und zum Kammerflimmern mit anschließendem Herzstillstand. Nach Reanimation erfolgte um 18:13 Uhr eine Herzkatheteruntersuchung, der Patient wurde mit zwei Stents versorgt. Er verstarb am nächsten Morgen nach erneutem Herzstillstand. Seine Witwe machte aus übergegangenem Recht Schmerzensgeld in Höhe von 30.000 € geltend. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Nach Berufung durch die Witwe hat das Oberlandesgericht (OLG) ihr Schmerzensgeld in Höhe von 2.000 € zugesprochen. Die Witwe verfolgte daraufhin den Antrag auf Zahlung eines darüber hinausgehenden Schmerzensgeldes vor dem BGH weiter.

OLG: Es liegt ein Behandlungsfehler vor

Das OLG hat es als behandlungsfehlerhaft angesehen, dass der Patient nicht spätestens zehn Minuten nach dem um 15:33 Uhr aufgezeichneten EKG, zumindest aber zehn Minuten nach dem um 15:37 Uhr vorliegenden Laborergebnis unverzüglich auf den nächsten freien Katheterplatz verbracht worden sei. Werde ein EKG für indiziert gehalten und geschrieben, müsse die Aufzeichnung lege artis nach zehn Minuten befundet werden. Aus dem EKG habe sich der hochgradige Verdacht auf einen Herzinfarkt ergeben. Betrachte man EKG- und Laborwerte zusammen, handle es sich per definitionem um einen Herzinfarkt. Entgegen dem ärztlichen Standard sei die Katheteruntersuchung nicht spätestens gegen 16:00 Uhr, sondern erst um 18:13 Uhr begonnen worden. Der Behandlungsfehler habe zum Kammerflimmern und schließlich zum Tod des Patienten geführt. Die spätestens um 15:43 Uhr (EKG) bzw. 15:47 Uhr (Labor) ärztlich auszuwertenden Ergebnisse hätten ein Ergebnis erbracht, das zum schnellstmöglichen Kathetern Anlass gegeben hätte. Die unverzügliche weitere Befunderhebung in Form der Herzkatheteruntersuchung hätte eine koronare Dreigefäßerkrankung, insbesondere eine hochgradige ostiumnahe RCA-Stenose ergeben, auf die sofort während der Herzkatheteruntersuchung hätte reagiert werden müssen. Das Unterlassen einer solchen Reaktion sei angesichts des lebensbedrohlichen Befundes grob fehlerhaft gewesen.

BGH: Die Höhe des Schmerzensgeldes muss auch die Genugtuung umfassen

Der BGH stellte fest, dass die Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes rechtsfehlerhaft gewesen sei, da das OLG dem Gesichtspunkt der Genugtuung keine Bedeutung beigemessen habe. Schmerzensgeld hat eine doppelte Funktion: Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für Schäden bieten, die nicht vermögensrechtlicher Art sind (Ausgleichsfunktion). Zudem soll es dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (Genugtuungsfunktion). Die Genugtuungsfunktion bringt eine durch den Schadensfall hervorgerufene persönliche Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigtem zum Ausdruck, die es gebietet, alle Umstände des Einzelfalles in den Blick zu nehmen und bei der Bestimmung der Leistung zu berücksichtigen. Zu diesen Umständen gehört auch der Grad des Verschuldens des Schädigers.

Auch wenn bei der ärztlichen Behandlung das Bestreben des Arztes im Vordergrund stehe, dem Patienten zu helfen, stelle es einen wesentlichen Unterschied dar, ob dem Arzt grobes Verschulden zur Last falle oder ihn nur ein geringfügiger Schuldvorwurf treffe. Ein dem Arzt aufgrund grober Fahrlässigkeit unterlaufener Behandlungsfehler könne dem Schadensfall sein besonderes Gepräge geben. Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden sein, es muss unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Ein objektiv grober Pflichtenverstoß rechtfertigt für sich allein noch nicht den Schluss auf ein entsprechend gesteigertes persönliches Verschulden. Vielmehr sei ein solcher Vorwurf nur dann gerechtfertigt, wenn eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegt.

Ein grober Behandlungsfehler habe in diesem Fall vorgelegen. Zur subjektiven Vorwerfbarkeit habe das OLG jedoch keine Feststellungen getroffen. Es sei nicht auszuschließen, dass die mehr als zweistündige Verzögerung der unverzüglich durchzuführenden Herzkatheteruntersuchung auf einer subjektiv schlechthin unentschuldbaren Pflichtverletzung der behandelnden Ärzte beruhe. Das Berufungsurteil wurde aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Literaturtippz um Thema Behandlungsfehler www.allgemeinarzt.digital/praxisalltag/praxisfuehrung/aerztliche-behandlungsfehler-leitlinien-133755

Autorin
Dr. jur. Kirsten Theuner
Die Autorin ist Rechtsanwältin in Frankfurt am Main.
Sie ist außerdem als Rechtsreferentin für die Landesärztekammer Hessen tätig und dort für Fragen des ärztlichen Gebührenrechts zuständig

Grobe Fahrlässigkeit gibt dem Behandlungsfehler mehr Gewicht

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in Arzthaftungssachen kann der Gesichtspunkt der Genugtuung nicht grundsätzlich außer Betracht bleiben. Es stellt einen wesentlichen Unterschied dar, ob den Arzt nur ein geringfügiger Schuldvorwurf trifft oder ob er grob schuldhaft (grob fahrlässig) gehandelt hat. Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Liegt grobe Fahrlässigkeit im Rahmen des Behandlungsfehlers vor, kann das Schmerzensgeld unter dem Gesichtspunkt der Genugtuung höher angesetzt werden.


Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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