
19. März 2021
Arzt als Patient
Auf der anderen Seite der Infusion
Unter der Rubrik „Der Arzt als Patient“ berichten Hausärzte aus eigener Betroffenheit ihre Erfahrungen. Als Patienten suchen sie Rat und Hilfe bei ihren Kollegen, Hausärzte häufig bei Spezialisten. In der Regel ist der Wechsel der Perspektive vom Behandler zum Behandelten eine neue Erfahrung. Immer wieder stellen sich dabei ähnliche Fragen: Bin ich richtig krank oder fühle ich mich nur krank? Ist die Diagnose richtig? Die vorgeschlagene Maßnahme das Optimum? Wie ist die Prognose? Und wie ist die Kommunikation mit dem Kollegen gelaufen? Wie bin ich mit der Krankheit und mit dem Kranksein umgegangen, und was hat die Krankheit aus mir gemacht?
Über Nacht vom Hausarzt zum Tumorpatienten
Dass ich bei der Altenheim-Visite mit meinem Koffer zum Verschnaufen im Treppenhaus stehen bleiben musste, erstaunte mich dann doch. Ich schob es zunächst auf die schwülheiße Witterung, auf eine zu geringe Trinkmenge und auf noch einige Dinge. Die üblichen Abwehrmechanismen funktionierten auch bei mir zunächst wie geschmiert. Als die Belastungsdyspnoe stärker wurde, steckte ich dann doch einmal den Finger in mein Pulsoxymeter und war erstaunt über eine Sauerstoffsättigung von 88% in Ruhe und eine Sinustachykardie von über 100/min. Zum Ausschluss einer Lungenembolie organisierte ich noch am gleichen Abend ein Thorax-CT, welches dann die Diagnose einer großen mediastinalen Raumforderung mit Phrenikusparese und Zwerchfellhochstand ergab.
Der Praxispartner erfährt es noch vor der Familie
Dass das kein benigner Befund sein dürfte, war mir auch ohne radiologische Expertise schnell klar. Mit mulmigen Beinen trat ich den Heimweg an, nicht ohne noch einmal in der Praxis vorbeizufahren und vorsorglich ein orales Benzodiazepin für eine erwartungsgemäß lange Nacht mitzunehmen.
Vor einem halben Jahr war ich mit meinem Praxispartner (allgemeinärztliche BAG) in neue Räume umgezogen, hatte eine Menge Geld, Zeit und Herzblut investiert. Er war auch der Erste, den ich auf dem Heimweg vom Thorax-CT angerufen und informiert hatte. Zuhause reagierte die Familie recht souverän, vermutlich auch deshalb, weil ich anfangs doch versuchte, die Sache zumindest gegenüber den Kindern ordentlich zu bagatellisieren.
Maximaldiagnostik und banges Warten
Am folgenden Morgen saß ich bereits in der thoraxchirurgischen Sprechstunde der nächstgelegenen Klinik mit Maximalversorgung, die CD mit den CT-Bildern in meinen feuchten Händen. Tags darauf sollte per Mediastinoskopie eine Histologiegewinnung erfolgen. Es folgten zehn bange Tage des Wartens. Mehrfach täglich wurden meinerseits diverse Policen zu Berufsunfähigkeit, Lebensversicherung, Hinterbliebenenschutz etc. gewälzt. Auch der Automatismus des „Googelns“ diverser Thoraxraumforderungen lief nach bekannter Manier an, wie ich es bei Patienten hundertfach beobachtet und verteufelt hatte. Diese zehn Tage des Wartens auf die exakte Diagnose waren rückblickend die schlimmste Phase der gesamten Tumorerkrankung.
Schließlich erbrachte die Histologie ein hochmalignes Lymphom und ich „durfte“ endlich stationär zur Komplettierung des Stagings und zum ersten Zyklus der Chemotherapie (R-CHOP) einrücken.
Der Feind ist erkannt, der Kampf beginnt
Der Feind war nun klar, eine kurative Behandlungsintention gegeben, und selbst die Knochenmarkspunktion und die Portimplantation waren schon nicht mehr so wild wie befürchtet. Ich hatte mich bewusst für das etwas „anonymere“ Setting einer großen Schwerpunktklinik entschieden. In der regionalen Klinik hätte ich gewiss als lokaler Hausarzt ein paar „Extrawürste“ gebraten bekommen. Doch generell hatte ich es auch oft schon selbst erlebt, dass die Rolle des Therapeuten manchmal dadurch belastet wird, wenn man sich als Arzt und Patient zu gut kennt und entsprechend „biased“ arbeitet. Das wollte ich beiden Seiten ersparen.
Neben einer intakten, stabilen Kernfamilie waren auch die Gespräche mit einem befreundeten Seelsorger hilfreich: „Es ist nicht immer möglich, im Leben nur auf die Butterseite zu fallen. Einmal eine schwere Erkrankung zu erleiden, das gehört in unserem Dasein genauso dazu – auch wenn wir es immer schön beiseiteschieben. Schau dich doch bei deinen Patienten um, in fast jeder Familie scheppert es alle paar Jahre doch mal, und es muss ein Schicksalsschlag getragen werden“, nahm er mich buchstäblich ins Gebet.
„Herr Doktor! Aber Sie sind doch krebskrank!“
Ich freute mich zunehmend über die gute Verträglichkeit des ersten Chemo-Zyklus und darüber, wieder strukturiert planen zu können. 18 Wochen Chemo mussten familiär organisiert werden, Absprachen mit dem Praxispartner getroffen und auch finanzielle Aspekte wie die Gewinnverteilung geregelt werden. Nach jedem der dreiwöchentlichen Chemo-Zyklen ging es eine Woche etwas beschwerlich, ähnlich einer schweren Abgeschlagenheit bei grippalem Infekt. Die beiden Wochen danach waren dann in der Regel gut machbar, und auch kleinere Fahrradausflüge mit der Familie in den Biergarten schaffte ich wieder. Dort angekommen ließ ich mir eines Abends erschöpft und stolz eine Currywurst mit Pommes schmecken. „Herr Doktor! Aber Sie sind doch krebskrank! Diese vielen ungesättigten Fettsäuren, Geschmacks- und Konservierungsstoffe! Sie müssten es doch nun wirklich besser wissen!“, ertönte es vom Nachbartisch. Die aufsteigende Übelkeit war diesmal wohl eher nicht der Chemotherapie geschuldet.
Suche nach den Ursachen
Privat und auch von Patientenseite erlebte ich in dieser Zeit eine Welle des Mitgefühls, aber auch eine Inflation gut gemeinter Ratschläge. Körbe mit Aroniabeeren, Spezialextrakten, Curcuma und anderen Wunderheilmitteln wurden in fürsorglicher Absicht von Patienten in der Praxis für mich hinterlegt. Auffällig war außerdem ein enormes Kausalitätsbedürfnis, weniger bei mir als in meinem Umfeld: „Warum wird ausgerechnet ein Arzt selbst krebskrank?“, schienen sich viele zu fragen. Konfrontiert wurde ich unter anderem mit abenteuerlichen Theorien zur Pathogenese des Lymphoms – ich würde zu viel arbeiten, zu wenig schlafen, zu viele Notarztdienste machen, und die giftigen Ausdünstungen der neuen Möbelstücke in den neuen Praxisräumen dürfe man nicht als Ursache vergessen! Dies stellte für mich mitunter wirklich eine Belastung dar, zumal ich versichern kann, dass man als Tumorpatient ohnehin jeden Stein des eigenen Lebens aufhebt, umdreht und hinterfragt. Und ja, das Ergebnis fühlte sich ganz gut an: Ich würde denselben Beruf wieder ergreifen, dieselbe Frau wieder heiraten ... Klar, ich befand mich die letzten Jahre über in der „Rushhour“ des Lebens, aber als monokausale Begründung für die Krebsentstehung taugte dies für mich dennoch nicht.
Rückkehr in den Alltag
Und so reifte mein Entschluss, auch während der Chemotherapie wieder „dazugehören zu wollen“ im Praxisteam. Sofern es Allgemeinzustand, Übelkeit und Leukopenie erlaubten, fing ich wieder an, stundenweise in der Praxis zu arbeiten. Tätigkeiten mit wenig Infektionsgefährdung fanden sich wirklich genug. Diabeteseinstellung, DMPs, Abrechnung und Bürokram gingen bald ganz gut, auch mit kleinen Päuschen dazwischen im Sozialraum. Mir tat es sichtlich gut und die Kollegen freuten sich über etwas Entlastung. Zu dieser Zeit fing ich übrigens an, wegen meiner Immunsuppression den Patienten den Handschlag zu verweigern. Was anfänglich für Kopfschütteln bis Unverständnis sorgte, wurde mittlerweile in der Coronavirus-Pandemie ohnehin obsolet.
Cool bleiben
Nach sechs Zyklen R-CHOP bin ich aktuell in stabiler Vollremission, es dauerte jedoch noch ca. ein Jahr bis zur völligen Wiedererlangung der vorherigen körperlichen und mentalen Power. Zusammenfassend kann ich bestätigen, dass eine Tumordiagnose tatsächlich eine biologische, soziale, materielle und spirituelle Dimension für den Betroffenen hat. Bisher war auch ich als Arzt oftmals nur auf die ersteren, körperlich-medizinischen Belange fokussiert gewesen. Aufgrund der tiefen Zäsur im Leben der Betroffenen ist es sicher gerechtfertigt, nach möglichen ursächlichen Faktoren auf verschiedenen Ebenen zu forschen. Vorschnelle monokausale Festlegungen bezüglich des „einen Auslösers“ halte ich aber für ebenso ungut wie kräftezehrenden Aktionismus in der Veränderung von Lebensumständen, wozu man vielleicht doch manchmal von außen ganz gerne gedrängt wird.
Cool zu bleiben, den eigenen Weg zu finden und sich auf das eigene Gespür zu verlassen, was mir guttut und was nicht: Diese Dinge waren für mich am ehesten hilfreich. Wertvolle Ressourcen waren für mich darüber hinaus ein festes familiäres Gefüge, eine Verwurzelung im Glauben, eine Bindung an den Arbeitsplatz und wenige, aber gute Sozialkontakte. So bleibt der Weg aus einer Tumorerkrankung sicherlich immer ein individueller. Im Rahmen unserer medizinischen und wertschätzenden Begleitung sollten wir hierbei jedoch noch mehr versuchen, allen Dimensionen der Krankheit gerecht zu werden.
Autor:
Dr. med. G. T.
Facharzt für Allgemeinmedizin/ Notfallmedizin 45 Jahre
Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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