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16. Februar 2023

Und plötzlich war da ein Hirntumor

Unter der Rubrik „Der Arzt als Patient“ berichten Hausärzte aus eigener Betroffenheit ihre Erfahrungen. Als Patienten suchen sie Rat und Hilfe bei ihren Kollegen, Hausärzte häufig bei Spezialisten. In der Regel ist der Wechsel der Perspektive vom Behandler zum Behandelten eine neue Erfahrung. Immer wieder stellen sich dabei ähnliche Fragen: Bin ich richtig krank oder fühle ich mich nur krank? Ist die Diagnose richtig? Die vorgeschlagene Maßnahme das Optimum? Wie ist die Prognose? Und wie ist die Kommunikation mit dem Kollegen gelaufen? Wie bin ich mit der Krankheit und mit dem Kranksein umgegangen, und was hat die Krankheit aus mir gemacht?

Im Alter von 47 Jahren und als ärztlicher Direktor einer großen neurologischen Rehabilitationsklinik für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Süden Deutschlands, hatte ich gerade eine neue berufliche Herausforderung angenommen. Zu dieser Zeit bemerkte mein privates Umfeld meine Persönlichkeitsveränderung. Allen voran meine Frau, meine drei Kinder bemerkten nicht ganz so viel. Der Wandel vom guten Vater, der versuchte immer alles zu ermöglichen, hin zu einem auf Jung machenden Papa, der kleine Fehler abtut, ging langsam vor sich. Ich machte viele unüberlegte Dinge, fühlte mich innerlich getrieben, fand keine Ruhe. Ich fing an, vermehrt Geld auszugeben, mit meiner Frau stritt ich viel. Wir machten sogar eine Paartherapie, weil wir nicht mehr ein noch aus wussten.

Nur ein Burn-Out – oder doch mehr?

Die Psychologin attestierte mir ein Burn-Out, das ich mir nicht erklären konnte. Meine Frau und auch mein Doktorvater, zu dem ich ein vertrauensvolles Verhältnis pflege, bestanden darauf, eine Kernspintomografie des Kopfes zu machen. Kontakte und Beharrlichkeit zahlten sich aus, ich bekam einen Termin am Donnerstag vor Pfingsten, noch vor den geplanten Ferien in Norwegen. Nach der MRT wartete ich im Flur der Radiologie auf den Befund, noch immer überzeugt, dass alles in Ordnung war.

Ich erstarrte, als ich das Bild sah:

Abb.: T1-gewichtete Bilder mit Kontrastmittel. Links axiale, rechts sagittale Schnittführung. Hirneigener frontaler Tumor mit Falx-Bezug und Ödem; aufgrund der Kontrastmittelaufnahme mit Bluthirnschrankenstörung, eher Gliom Grad III bis IV in Erwägung zu ziehen.

Nach der Untersuchung führte mein Weg mich in die nächstgelegene Universitätsklinik für Neurochirurgie. Dort wurde ich vom Chefarzt persönlich empfangen, der in der Zwischenzeit die Befunde erhalten hatte. Am nächsten Tag wurde nochmals eine MRT gemacht, auch zur Planung der Operation. Ich erhielt Kortison zur Abschwellung, danach konnte ich wieder nach Hause fahren. Am Pfingstmontag wurde ich abends in der Klinik aufgenommen und am Folgetag operiert.

Ich erinnere mich noch genau an meinen ganz persönlichen Bodycheck (Bewegungsprüfung aller Extremitäten, Sprachproduktion und Gedächtnisprüfung) im Aufwachraum nach der Operation. Ich konnte mich auch noch an die Telefonnummer meiner Ehefrau erinnern und berichtete ihr. Etwas später trat auch Professor Neurus (so will ich ihn hier nennen) an mein Bett: „Sie können von Glück reden, Sie haben ein Meningeom, wahrscheinlich auch nur Grad 1.“

Rückschläge inbegriffen: der Weg der Therapie

Von Seiten des behandelnden Onkologen erlebte ich wenig Vertrauensbildendes. Mir fehlte die Empathie, die doch in der Verbindung zwischen einem Krebspatienten und seinem Behandler die so wichtige Basis bildet. Prof. Neurus war ein distanzierter Arzt, der keine Nähe zulassen konnte. Ich erlebte ihn als unnahbar, narzisstisch und jemand, der andere Meinungen nicht duldet. Von seinem Personal als omnipräsenter Chef beschrieben, war er selbst am Wochenende oder an Feiertagen in der Klinik. Den pathologischen Befund brachte er mir nicht persönlich, sondern schickte einen Assistenten vor. Dieser informierte mich, dass es sich um ein Meningeom Grad 3 handele, und dass eine Strahlentherapie nötig sei. Natürlich kannte ich die Strahlentherapie, aber nur aus Vorlesungen oder Büchern. Ein neues Feld tat sich auf, mit dem ich mich erst einmal auseinandersetzen musste. Die Professorin für Strahlentherapie war mir gleich sympathisch. Sie erklärte mir die Bestrahlung genau, versicherte mir, es würde nicht weh tun und ich könne alles machen: Theaterbesuch, etc. Sie zeigte mir ihre Station mit den präfinalen Fällen, woraufhin ich mich zu einer ambulanten Behandlung vom Campingplatz der Stadt aus (dort wollte ich unser Wohnmobil parken) entschied.

Ich radelte zu den wochentäglichen, insgesamt 72 Bestrahlungen, hatte viel Zeit für mich, fing langsam wieder an, Sport zu treiben und mich über die Erkrankung zu erkundigen. Ich informierte mich auch über alternative Heilmethoden und konnte mich für die sogenannten Heilpilze erwärmen. Ich erhielt zudem viel Unterstützung von meinem Freundeskreis. Nach der 72. Bestrahlung ging ich in eine Rehaklinik in der Nähe meines Wohnorts. Dort wurde mir viel abverlangt, konditionell wie auch geistig-psychisch-neuropsychologisch. Ein kognitiver Leistungstest zeigte, dass alles wieder in Ordnung war. Im September konnte ich meine Arbeit wieder aufnehmen. Arbeit gibt dem Menschen so viel – soziale Struktur, Selbstbewusstsein, Erfüllung.

Alles ist wieder gut – oder doch nicht?

Ich befand mich nach wie vor in regelmäßigen MRT-Kontrollen, als sich im Juli des darauffolgenden Jahrs etwas Verdächtiges fand. In der neurochirurgischen Uniklinik konnte man mir nicht sagen, was es sein könnte, da Prof. Neurus nicht da war. Kurzentschlossen besuchte ich die Strahlentherapeutin, die mich in ihre Überlegungen einbezog und ein Rezidiv bestätigte, das operativ entfernt werden müsse, ggf. könnte man im Anschluss noch eine Booster-Bestrahlung mit 20Gy machen. Im Oktober folgte die zweite Operation mit anschließender Bestrahlung. Es kam einfach keine Ruhe auf. Doch während der ganzen Zeit übte ich meinen Beruf als ärztlicher Direktor aus.

Eines Vormittags ging es mir nicht gut, ich meldete mich kurzfristig krank und fuhr nach Hause. Ich hielt an einem Supermarkt an, ging ganz verloren durch die Gänge und wusste nicht, warum ich dort gehalten hatte. Daheim am Mittagstisch erlitt ich einen fokalen, sekundär generalisierten Anfall und kam erst in der Klinik zu mir – ein erneutes Tumorrezidiv. Mir war sofort klar, dass ich Prof. Neurus nicht mehr an meinen Kopf lassen wollte und fragte den diensthabenden Neurochirurgen nach einer Alternative. Prof. Herz (so will ich ihn hier nennen) ist ein anerkannter Spezialist für Hirntumoren, was auch die Strahlentherapeutin bestätigte. Prof. Herz praktiziert an der Klinik, wo ich studiert hatte. Also führte mein Weg mich zurück an den Ort, an dem ich eine gute Zeit verbracht hatte, was mich ermutigte.

Prof. Herz betrachtete die Bilder und meinte er könne operieren, doch vorher sollten wir ein Dotatate-PET machen. Meningeome haben die Eigenschaft, an ihrer Oberfläche Somatostatin-Rezeptoren zu exprimieren, die man gut in der PET-CT darstellen kann. Er wollte sichergehen, das sich keine Metastasen gebildet hatten. Die Operation war erfolgreich, doch die postoperativen Bilder erschreckten mich: Prof. Herz hatte ganze Arbeit geleistet und den kompletten Sinus frontalis sagittalis superior entfernt, darüber hinaus auch noch weiteres Hirngewebe. Das scheint der Preis für eine möglichst rezidivfreie Zeit zu sein.

Nach der 3. Operation ging ich in die Rehabilitation und konnte zu mir finden. Ich lernte ein Verfahren kennen, das (Atem-)Achtsamkeit trainiert. Diese Form der Meditation praktiziere ich noch heute.

Abschließend noch einige Gedanken zu unserem maroden, auf finanziellen Profit ausgelegten Gesundheitssystem: Tumorpatienten erkranken nie allein, doch wer kümmert sich um die Familie, die Ehefrau, die Kinder? Meine Frau hat mir immer wieder Hoffnung und Zuversicht gegeben. Die Familie ist ein System, das stützen kann, aber auch gestützt werden muss!

Literaturtipp
zum Thema Arzt als Patient: „Seitenwechsel – ein Arzt als Patient“. Gmeiner-Verlag, on demand, bei allen Buchhandlungen bestellbar mit folgender ISBN/EAN: 9783839204399.

Autor
Dr. med. K. S.


Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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