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23. August 2021

„Corona“ und die Isolation

„Sie waren ein Hochrisikofall"

Pflegebedürftige Menschen hatten zu Beginn der COVID-19-Pandemie durch die gesetzlich angeordneten Lockdowns besonders stark unter Vereinsamung zu leiden und mussten mitunter schwere Einbußen ihrer Lebensqualität erfahren. Wie eine Hochrisikopatientin mit der Vorerkrankung einer Multiplen Sklerose (MS) ihre Infektion mit SARS-CoV-2 und die dadurch erforderliche Isolation erlebt hat, schildert die Autorin Beatrix Diener, 77, auf eindringliche Weise in nachfolgendem Beitrag. Zum Zweck der ästhetischen Verfremdung und als Mittel der literarischen Selbstdistanzierung hat sie ihren Text durchgehend in der „Du-Form“ verfasst.

Hast Du nicht schon genug an der Multiplen Sklerose und einer irreparabel operierten Wirbelsäule, warum solltest Du auch noch „Corona“ kriegen?

In der freien Natur wirst Du wohl ohne Maske mit dem Elektrorollstuhl herumfahren dürfen? Zum Einkaufen fährst Du auch noch, solange es erlaubt ist. Das ist ein Teil Deiner sowieso ziemlich eingeschränkten Freiheit, aber wen kümmert das? Im Betreuten Wohnen triffst Du Dich regelmäßig mit einer Leidensgenossin, ein Haushaltskontakt. Könntet Ihr Euch trotzdem anstecken?

Zuerst hast Du leichten Schnupfen und Husten, schnell wieder vorbei und längst nicht so schlimm wie die Erkältung im Vorjahr. Auch etwas Halsweh, aber dagegen musst Du auch sonst Lutschpastillen nehmen wegen medikamentenbedingter Mundtrockenheit. Dann Abgeschlagenheit, Kopfweh und Schwindelgefühle – alles bekannt, darunter leidest Du öfter. Und manchmal hast Du gar keine Lust, Dir was zu essen zu machen, wie jetzt auch. Aber am Ende der zweiten Woche kommt Durchfall hinzu und hohes Fieber.

Klinikalltag in Zeiten der Pandemie

Jetzt geht’s ab in die Klinik – Verdacht auf „Corona“. Zusammen mit einer ausländischen Pflegerin packst Du noch das Nötigste zusammen: Nachthemd, Zahnbürste, Handy, Geldbörse, Notizbuch und Bücher fürs Überleben! Prompt das Shampoo vergessen – spielt aber keine Rolle, denn sie werden Dich in den kommenden drei Wochen sowieso nicht duschen. Sturzgefahr! Dabei fährst Du auch sonst auf diesem Stuhl ins Bad. Aber nein, jetzt alles im Bett in mehr oder weniger verkrümmter Haltung, die Dir zunehmend Schmerzen und Krämpfe bereitet. Deswegen müsstest Du öfters umgelagert werden, doch das schaffen sie nicht. Die Krankenschwestern – unwirsch zum Teil, weil sie ja immer diese hinderliche Schutzkleidung anlegen müssen, bevor sie unser Dreibettzimmer betreten – machen ihre Handgriffe und dann ab. Hast Du alles in Greifnähe? Bloß nichts vergessen, sonst wartest Du die nächste Stunde darauf. Die beiden Mitpatientinnen sind keine Hilfe, da in jeder Hinsicht behindert. Eher noch die Reinigungsfrau, der Du gleich einen kleinen Bonus zukommen lässt, da sie ja immer an letzter Stelle steht. Dafür räumt sie Dir dann mal das Frühstückstablett weg oder schenkt Wasser nach.

Die Patientin zu Deiner Linken schaut aus wie ein Kerl, stößt seltsame Laute aus, lässt ständig den Fernseher laufen und schnarcht in allen Tonarten. Beantwortet die Frage, ob sie gut geschlafen habe, immerhin mit einem freudigen „Ja!“

Die rechts von Dir Liegende ist ein ganz armes „Hascherl“, zittert und winkt, ruft „Hallo, hallo“, auch mitten in der Nacht. Du liegst dann wach bis zum buchstäblichen Morgengrauen, wo mindestens eines Deiner Beine zu toben anfängt. Nun heißt es warten, bis endlich die Schwestern erscheinen und Dich auch aus dem Steckkissen befreien, wo Du festgezurrt warst wie ein Wickelkind in früheren Zeiten. Denn manchmal kommst Du selbst mit allen Tricks nicht von alleine hoch, obwohl das Bett höhenverstellbar ist und der Galgen über Dir hängt. Du bist schon froh, wenn Du die Schnabeltasse erreichst und noch Wasser drin ist. Ein neuer Krankenhaustag nimmt seinen Lauf. Resilienz wäre gefragt, eudaimonisches Glück und posttraumatisches Wachstum.

Gegen 7 Uhr kommen sie zum Waschen und so weiter. Die beiden anderen können ins Bad, Dich setzen sie im Bett halbwegs auf, bringen Schüssel und Lappen. Hättest nicht gedacht, dass Du wie nach den OPs behandelt wirst – und da war’s noch besser. Gut, dass man’s vorher nicht weiß ...

Zähneputzen, Kämmen, alles eine Anstrengung, dazu das mühsame Angeln nach Dingen aus Deinem Necessaire. Derweil wird natürlich der gerade noch trinkbare Kaffee zur lauwarmen Plempe. Frühstück im Bett und alles voller Krümel. Kurze Visite der Stationsärztin: keine Symptome mehr, doch wir warten weiter auf das neue Ergebnis.

Mittagessen schon ab 11 Uhr, wer soll da wieder Hunger haben? Der Nachmittag zieht sich hin. Kein Besuch natürlich, aber eine liebe Freundin, die hier wohnt, gibt für Dich was an der Pforte ab.

Ein sehr einfühlsamer Pfleger nimmt verbale Ausbrüche einer neuen Bettnachbarin gelassen hin und stellt klar, was er tun kann und was nicht.

Den neben dem Bett aufgehängten Minifernseher erreichst Du kaum, das Bild ist sehr schwach. Im integrierten Radio sind die populären Sender eingestellt, wenigstens kannst Du Nachrichten hören („Corona, Corona“). Schwierig, ein Buch zu halten, weil Deine linke Hand keine Kraft mehr hat. Trotzdem ist schon eine Romanbiografie ausgelesen und der neue Bestseller zur Hälfte. Du würdest die Bücher gern an den Pfleger oder eine Schwester verschenken – doch sie müssen alles vernichten. Telefonieren oder WhatsApp tippen ist auch mühsam, das Handy rutscht immer weg. Du hast keine Lust auf lange Erklärungen. Es geht Dir schlecht, Punktum.

Abendessen um 5 Uhr nachmittags, dann Zähneputzen und es wartet die endlose Nacht.

Zum Glück kein schwerer Verlauf

Auf dieser Station finden derzeit keine Operationen statt, da haben sie die „Corona“-Patienten alle zusammengelegt. Keine Ahnung wie viele, Neuzugänge wohl täglich, aber Fragen dieser Art werden kaum beantwortet.

Anfangs bist Du zur Beobachtung im Einzelzimmer gewesen, bis der erste Test positiv ausgefallen ist. Schrecklich, dieser Abstrich: Mit einem präparierten Plastikstab wird in ein Nasenloch oder in den Rachen gestochen, dass Du meinst, sie kommen im Gehirn wieder raus. Und dann hörst Du: „Nicht tief genug!“ Du drehst fast durch, aber es muss sein. Positiv, negativ, positiv ... zum Verzweifeln. Endlich in der dritten Woche ist der Test zweimal hintereinander negativ. Das war die Bedingung – eher kommst Du nicht raus.

Aber die beiden Bettnachbarinnen lassen sich nicht testen, obwohl sie es zu fünft – Arzt, Pfleger und Krankenschwestern – versuchen. Man schickt sie dann jedoch in ihr Heim zurück. Du bist froh über die zwei alten Damen, die jetzt hereinkommen. Die eine hat bald kein Fieber mehr und kann, wenn sie nicht gerade mit ihren zahlreichen Angehörigen telefoniert, immerzu schlafen, pfeift dabei leise vor sich hin und schläft sich so wahrscheinlich gesund. Die andere ist sehr lebhaft und sagt viele Gedichte auf – von Schillers „Glocke“ bis zu „In Regensburg auf der Kirchturmspitz, da kamen 99 Schneider z’amm“. Auch das Pflegepersonal wird auf diese Weise unterhalten und ist darüber mehr oder weniger begeistert.

Diese Dame, nennen wir sie Gerda, hat einen schlimmen Husten (Deine Pastillen besiegeln dann Eure Freundschaft) und einige Absencen, wo Ihr schon den Rosenkranz für sie betet. Aber beim EEG findet man nichts. Gerda wird am nächsten Tag wieder putzmunter und schimpft wie ein Rohrspatz: „Na, na, nicht zum Aushalten is’ des hier!“ Vom Heim aus haben sie ihr das Gebiss nicht mitgegeben, eine Katastrophe. Sogar die Ärztin ruft dort an, vergeblich. Du erfährst nicht mehr, ob Gerdas Zähne endlich gebracht werden, denn nach knapp drei Wochen sind die letzten beiden Abstriche Gott sei Dank negativ und Du darfst zurück ins Betreute Wohnen.

Insgesamt hast Du großes Glück gehabt: keine Atemwegsbeschwerden! Einige Male Sauerstoff inhaliert, bis die Sättigung ausreichend war, die Werte weitgehend normal, kein Fieber mehr oder sonstige virusbedingte Symptome. „Sie waren ein Hochrisikofall“, sagt man Dir.

Zurück im Betreuten Wohnen

„Daheim“ empfängt Dich die Helferin auch in dieser Weltraumkluft. Hier sind sie natürlich nicht begeistert davon und zum Teil wütend auf Dich. Aber Deine Leidensgenossin ist schon vor Dir mit „Corona“ in ein anderes Krankenhaus gekommen und ist immer noch mit Lungenentzündung drin.

Du fühlst Dich schwach und erschöpft, liegst nachmittags fast drei Stunden und erholst Dich langsam. Obwohl Du nach Aussage der Klinikärzte jetzt immun bist, musst Du noch zwei Wochen in Quarantäne verbringen (Vorschrift für alle, die im Krankenhaus waren).

Wieder nicht raus und keinen Kontakt – aber das hältst Du jetzt auch noch aus. Es geht aufwärts: Du kannst duschen, besser schlafen, lesen, telefonieren, wieder malen und Deine Tage gestalten.

Schließlich bescheinigt Dir der örtliche Hausarzt Symptomfreiheit, was dann auch vom Gesundheitsamt bestätigt wird. Jetzt ist jede Ansteckungsgefahr passé und Du kannst – im Rahmen Deiner Möglichkeiten – wieder machen, was Du willst. Ein schönes Gefühl!

Autorin

Beatrix Diener
geb.1944, Kunstpädagogin mit universitärem Lehrauftrag, literarische Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien.
Vor ca. 30 Jahren uncharakteristische Störungen des Sensoriums. Zehn Jahre später Diagnose einer Multiplen Sklerose (2002). Weitere zehn Jahre später ausgedehnte Wirbelsäulenversteifung wegen zunehmender Instabilität und ständiger Schmerzen. Seit drei Jahren an den Rollstuhl gefesselt, lebt sie heute im Betreuten Wohnen. Ihr gleichaltriger Ehemann fährt seine Frau in einem Spezialfahrzeug öfters pro Woche zwischen der Wohnanlage und dem 30 km entfernt gelegenen eigenen Haus hin und her.


Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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