© Simon Geisberger

11. Juni 2021

Diagnose ohne Therapie

„Und trotzdem juckt’s“

Unter der Rubrik „Der Arzt als Patient“ berichten Hausärztinnen und Hausärzte aus eigener Betroffenheit ihre Erfahrungen. Als Patientinnen und Patienten suchen sie Rat und Hilfe bei ihren Kollegen, Hausärzte häufig bei Spezialisten. In der Regel ist der Wechsel der Perspektive vom Behandler zum Behandelten eine neue Erfahrung. Immer wieder stellen sich dabei ähnliche Fragen: Bin ich richtig krank oder fühle ich mich nur krank? Ist die Diagnose richtig? Die vorgeschlagene Maßnahme das Optimum? Wie ist die Prognose? Und wie ist die Kommunikation mit dem Kollegen gelaufen?Wie bin ich mit der Krankheit und mit dem Kranksein umgegangen, und was hat sie aus mir gemacht?

Erich Egon, mein alter Freund, war ein Leben lang Hausarzt. Und ich war 30 Jahre lang Anästhesist in der Klinik.

Zu meiner Gesundheit hatte mein Freund schon vor Jahrzehnten seine Meinung: „Deine Krankheit ist, dass du keine Krankheit hast.“ Kaum hatte ich meinen 80. Geburtstag gefeiert, war seine Einschätzung hinfällig.

Die Diagnose lässt alle Fragen offen

Es begann mit einem Juckreiz, der sich zunehmend steigerte. Erst da und da, dann überall. Mit Erich Egon war ich mir einig: „Wir schließen zunächst mal die wichtigsten abwendbar gefährlichen Verläufe aus.“ Als Spezialist suchte ich also Klarheit beim Internisten und beim Urologen. Alle Untersuchungen und Laborwerte waren unauffällig. Konsequenterweise folgte der Gang zum Dermatologen: Die Epikutantests und Intrakutantests waren negativ. Die Creme verschaffte mir keine Linderung. Ich holte mir eine Zweitmeinung ein. Die erfahrene Dermatologin wiederholte die Allergietests und machte zusätzlich eine Hautexzision. Das histologische Ergebnis: „Morbus Grover“.1 Ich verließ die Praxis mit einem Rezept für eine (andere) Kortisoncreme. Der Juckreiz vom Kopf bis zu den Füßen ließ mich weiterhin nächtelang nicht schlafen.

I.v.-Kortison und Wannenbäder

Ich diskutierte wieder mit Erich Egon bei einem Bier. Wir kamen zum Ergebnis: Ab in die Uni-Hautklinik. Dort nahm man mich stationär auf. Erneute Testungen und Hautexzision. Erneut die Diagnose „Morbus Grover“. Ich beugte mich dem geballten Wissen der Spezialisten und fügte mich in Kortisoninfusionen und Lichttherapie. Weiterhin Kortisoncreme. Entlassung mit dem tröstenden Hinweis: „Sollte sich nach einigen Wochen nichts bessern, kommen Sie in unsere Ambulanz.“ Die bullösen Hautveränderungen wurden weniger. Der Juckreiz blieb jedoch unverändert.

Wochen später suchte ich die Ambulanz dieser Uniklinik auf. Der Assistenzarzt meinte: „Sie haben Morbus Grover“, ich sagte: „Das weiß ich inzwischen. Ich wollte lediglich wissen, ob es noch eine Therapiemöglichkeit gibt. Ihr Chef hatte mir erzählt, dass er schon mehr als hundert Grover-Patienten gesehen habe.“ Die zugezogene Oberärztin meinte nach reiflicher Überlegung: „Wir können Kortisoninfusionen machen und zusätzlich Wannenbäder. Das geht aber nur stationär.“ Da verzichtete ich auf das Angebot.

Charme mit Darm?

Nun beschloss ich, mich uralten Heilmethoden anzuvertrauen: Ein Internist mit Spezialisierung auf Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) untersuchte mich gründlich und meinte: „Ihre Beschwerden liegen im Magen-Darm-Trakt.“ Nach 18 Akupunktursitzungen und Schröpfen gab ich auf.

Apropos Magen-Darm-Trakt: Kein Gesundheitsbeitrag in unserer Medienlandschaft verzichtet darauf, die Bedeutung des Mikrobioms herauszustreichen. Diese Überlegungen führten mich zu einem Allgemeinarzt mit Spezialisierung auf Komplementäre Heilmethoden. Er schickte meinen Stuhl in ein Speziallabor und meinte dann: „Einen so guten Stuhl finde ich bei meinen Patienten selten.“ Ich verließ die Praxis mit einem Rezept für Nahrungsergänzungsmittel.

Krankheit oder Befindlichkeitsstörung?

Da meinte mein alter Freund Erich Egon, der Praktiker: „Du hast jetzt einen chronischen Pruritus. Da hilft dir aber die S2k-Leitlinie zum chronischen Juckreiz auch nicht weiter. Jedenfalls hast du keine Krankheit, sondern nur eine Befindlichkeitsstörung.“ Meinem Bruder, einem Tierarzt, erzählte ich von meiner Odyssee. Er kenne einen Kollegen, der mit ähnlichen Beschwerden ein Moorbad aufsuche. Ein Versuch könne doch zumindest nicht schaden.

Mit gemischten Gefühlen besuchte ich ein entferntes ausgewiesenes Moorbad und machte dort meine Wannenbäder mit Moor. Die Hautveränderungen bildeten sich zurück, der Juckreiz wurde erträglich. Ich kann jetzt ohne Kortisoncreme leben. Wenn die Symptome stärker werden, suche ich ein Heilbad in der Nähe auf und gehe dort in die Moorwanne.

Jetzt überlege ich: „Was aber, wenn trotz Bädern der Juckreiz wieder stärker wird? Vielleicht sollte ich doch mal einen Psychiater aufsuchen? Vielleicht sind es chronifizierte Befindlichkeitsstörungen?“

Erich Egon, mein alter Freund, ein Leben lang mit Haut und Haar begeisterter Hausarzt, schlug schließlich den „Atlas der Hautkrankheiten“ auf und las mir vor: „Morbus Grover ist transient.“

Diese Information hat mich sehr beruhigt. Ich bin jetzt 83 Jahre alt und ich kann warten. Aber trotzdem juckt‘s.

Autor:
Dr. med. X.V.
ehem. Chefarzt für Anästhesie, 83 Jahre
Name und Anschrift sind der Redaktion bekannt. Um die Anonymität des Autors zu wahren, wurden die Initialen seines Namens von der Redaktion geändert.

1 Morbus Grover : Transiente akantholytische Dermatose. Ein Spektrum wahrscheinlich nicht seltener benigner, selbstlimitierender Dermatosen unbekannter Ätiologie. Vgl. Fritsch P (2004): Dermatologie, Venerologie. Grundlagen, Klinik, Atlas. 2. Aufl., Springer, Heidelberg, New York

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