
15. April 2021
Laborfehler?
Wenn ich Fieber habe, bleibe ich zu Hause
Unter der Rubrik „Der Arzt als Patient“ berichten Hausärztinnen und Hausärzte aus eigener Betroffenheit ihre Erfahrungen. Als Patientinnen und Patienten suchen sie Rat und Hilfe bei ihren Kollegen, Hausärzte häufig bei Spezialisten. In der Regel ist der Wechsel der Perspektive vom Behandler zum Behandelten eine neue Erfahrung. Immer wieder stellen sich dabei ähnliche Fragen: Bin ich richtig krank oder fühle ich mich nur krank? Ist die Diagnose richtig? Die vorgeschlagene Maßnahme das Optimum? Wie ist die Prognose? Und wie ist die Kommunikation mit dem Kollegen gelaufen? Wie bin ich mit der Krankheit und mit dem Kranksein umgegangen, und was hat sie aus mir gemacht?
Auf meinem Oberschenkel hatte sich mitten im Mai aus einem kleinen roten Fleckchen eine gerötete Schwellung des ganzen Beines entwickelt. „Erythema migrans“ hätte ich dies bei einem Patienten genannt und Doxycyclin gegeben. Aber am eigenen Bein – vielleicht ein Erysipel? Die dicken Lymphknoten in der Leiste … ein kleines Blutbild und ausnahmsweise doch Borreliose IgM …?
Nachdem ich der Schwellung eine Woche lang bei der Ausbreitung zugesehen hatte, fühlte ich mich fiebrig. Vielleicht genügte es doch nicht ganz, das Bein früh und abends zu besichtigen. Also schlich ich mich zur Blutabnahme. Die MFA, die die Maßnahme eher für eine Kontrolle ihrer Fähigkeiten hielt, desinfizierte sorgfältig zweimal eine Minute.
Am nächsten Morgen erwartete mich auf dem Schreibtisch mein Laborbefund: Borreliose IgM positiv. Alles klar. Und nebenbei 1.200 Thrombozyten/l, Normalbereich bis 370. Fühlte ich mich „hämatologisch krank“? Nein, der Nachtschweiß gehörte ja ganz klar zur Beinschwellung. An Gewicht hatte ich im letzten Quartal zu- und keinesfalls abgenommen. Und überhaupt war ich bis dato in neun Jahren eigener Praxis nur an einem einzigen Tag zu Hause geblieben – das war wegen einer Sinusitis. In so einem Zustand konnte ich nicht solch horrende Thrombozytenzahlen haben. „Offensichtlich Laborfehler“ schrieb ich auf den Befund und legte ihn ins Schredderfach.
„Bei deinen Patienten überprüfst du so etwas immer“
Vielleicht wäre die Geschichte von hier aus mit einer kurzen, „knackigen“ Lungenembolie rasch zu Ende gegangen, vielleicht hätte sie sich mit einer Knochenmarkfibrose hingezogen, bis irgendwann die Milz sich gemeldet hätte. Im realen Leben klingelte aber abends das Telefon, meine Praxispartnerin war dran: „Meine Liebe, bei Patienten überprüfst du solche Auffälligkeiten immer. Wollen wir das bei dir nicht auch machen?!“
Hm, es war mir peinlich. Aber Recht hatte sie ja. Bei keinem Patienten hätte ich so einen Befund einfach als Fehler durchgehen lassen. Problem: Ich war mir kein Patient. Also vereinbarte ich einen Termin bei meinem früheren onkologischen Oberarzt, der uns Assistenten im Krankenhaus väterlich begleitet hatte. Damals hatte ich ihn warmherzig bis aufopferungsvoll erlebt. Nun war er selbst auch in eigener Praxis niedergelassen – ein erfahrener, allmählich aber auch in einen stillen Sarkasmus abgleitender Kollege. Jedenfalls: Ich vertraute ihm, wir mochten einander von alten Zeiten her.
Zwischen Praxis, Hausbesuchen und Kind-aus-dem-Kindergarten-Holen saß ich also bei ihm. Die Thrombozyten waren nicht weniger geworden. „Ist Ihnen die Knochenmarkpunktion sternal oder aus der Beckenschaufel lieber?“ First class, Kollegen dürfen wählen.
Abfinden mit dem Schlimmsten
Als ich nach zwei Wochen erwartungsvoll sein Zimmer betrat, legte er mir wortlos den malignen Histologiebefund vor: chronische myeloische Leukämie (CML). „Am besten, Sie trinken sich heut erstmal einen an. Für die Knochenmarktransplantation melde ich Sie bei Professor B. in D. an.“ (Es war die Zeit, als psychosomatische Grundversorgung und Kommunikationstraining noch als „Edelhobby von Psychoärzten“ galten).
Auf zu Professor B. Im Warteraum saßen Menschen mit Mund-Nasen-Schutz. Es musste also doch Überlebende der Knochenmarktransplantation geben. Dass die Masken einmal zur Alltagsmode gehören würden, war damals noch nicht zu ahnen – ich fand sie beängstigend. Professor B. eruierte meinen Bruder als geeigneten Knochenmarkspender. Nach umfassender Aufklärung („55% Überlebenschance, rein statistisch, das bedeutet für Sie gar nichts.“) stand der Termin für die Transplantation fest. Testament geschrieben, Versorgung der Kinder besprochen, schlaflose Nächte, vor Todesangst sich übergeben und früh wieder Sprechstunde gehalten.
Herzlichen Glückwunsch, zweite Chance!
Am letzten Tag zu Hause erreichte mich ein Anruf des Professors: Er habe sich die Unterlagen nochmal durchgeschaut. Dabei sei aufgefallen, dass der überweisende Kollege gar nicht auf BCR-ABL-Translokation des Chromosoms22 getestet habe, somit die Diagnose CML gar nicht sicher sei. Normalerweise erfolge das am Heimatort oder er mache das, aber bei Kollegen als Patienten laufe manches anders, unbewusst … Jedenfalls kein Grund zur Transplantation, herzlichen Glückwunsch, zweite Chance!
Inzwischen sind zwanzig Jahre vergangen, die Kinder sind erwachsen. CML kann heute wirksam medikamentös behandelt werden und ist nur noch selten Transplantationsindikation. Manchmal sind Ärzte wirklich krank – mein Myelofibrotisches Syndrom ist fortgeschritten, ich nehme Langzeit-Chemotherapie, aber ich lebe, lache, arbeite immer noch. Vielleicht hätte ich wütend sein müssen auf die Kollegen. Aber ich selbst war ja auch von allen üblichen diagnostischen Wegen abgewichen.
Ein bisschen sachlicher Abstand tut gut
Ich bin seit damals nie wieder zu befreundeten oder väterlich verbundenen Ärzten in Behandlung gegangen. Ein bisschen sachlicher Abstand tut dem ärztlichen Handwerk gut, der steht der Empathie nicht im Wege. Auch ärztliche Profis sind Menschen! Man muss sie nicht überfordern.
Und da ich keinen sachlichen Abstand zu mir selber habe (siehe „offensichtlich Laborfehler“), vertraue ich mich auch mit den vermeintlich kleinen Wehwehchen von vornherein Kollegen an: Als Chirotherapeutin gehe ich wegen „Rücken“ zum Orthopäden, wegen Dyspnoe zur Pulmologin. Last, but not least: Ich habe als Hausärztin sogar einen Hausarzt, der das koordiniert! Und wenn ich Fieber habe, bleibe ich zu Hause.
Autorin:
Dr. med. F.G.
Fachärztin für Allgemeinmedizin
Name und Anschrift sind der Redaktion bekannt.
Um die Anonymität der Autorin zu wahren,
wurden die Initialen ihres Namens von der Redaktion geändert.
Zitierhinweis: erschienen in dieser Ausgabe
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