© Simon Geisberger

2. Mai 2022

Glosse

Wie nahe sind verschiedene Facharztgruppen ihren Patienten?

Nik Koneczny hat sein Berufsleben als Hausarzt und Notarzt verbracht und Allgemeinmedizin an der Universität Witten-Herdecke unterrichtet. So lange, bis eine Herzmuskelentzündung ihm eine schwere globale Herzschwäche bescherte, wegen der er mittlerweile sogar dialysepflichtig ist und mit einer Herzpumpe versorgt wird. Als Internist, Notarzt und Dozent konnte er mit den Jahren beobachten, wie sich die Spezialisierung der Kollegen auf deren Patientennähe auswirkte. Seine Erfahrung als Patient ließ er auch in den folgenden Text einfließen.

Spätestens mit der Festlegung auf eine Facharztweiterbildung entschließt sich der Arzt, zukünftig mehr oder weniger intensiv mit seinen Patienten zu kommunizieren. Da sind auf der einen Seite die besonders patientenfernen Fachärzte, auf der anderen diejenigen, für die Patientenkommunikation ein wesentliches Werkzeug für Diagnostik und Therapie darstellt.

Bei der patientenfernen Gruppe fallen uns sofort die Labormediziner, die Radiologen und vor allem die Pathologen ein.

Aufschneider und Einschläferer

Sicher haben wir alle uns die Frage schon einmal gestellt, wer sich warum für die Pathologie entscheidet. Ist es das brennende Interesse, die wahre Krankheits- und damit Todesursache mit größter Sicherheit zu erforschen, oder ist es vielmehr der Ansporn, den staunenden Stationsärzten das Ergebnis ihrer unzulänglichen Diagnostikbemühungen vorzuführen? Sicherlich bedarf es erheblicher Überwindung, tagtäglich Tote aufzuschneiden, dafür ist der Gesprächsbedarf mit den Betroffenen gleich null.

Da sind die Anästhesisten schon näher dran an ihren Patienten. Nach der Überreichung des Aufklärungsbogens lautet der zentrale Satz: „Wenn Sie Fragen haben, melden Sie sich.“ Dann, kurz vor der Intubation, werden dem Patienten schöne Träume in Aussicht gestellt, daraufhin verabschiedet sich „das Sandmännchen“ auf Nimmerwiedersehen. Klar, dass sich so mancher Mediziner seine ärztliche Tätigkeit anders, empathischer vielleicht, vorgestellt hat. Das erklärt dann den Abschied aus dem OP, und damit die Abkehr von den Chirurgen, die eh alles Lob für ein gelungenes OP-Ergebnis einheimsen. Man wechselt dann üblicherweise auf die Intensivstation, wo allerdings der Gesprächsbedarf der Intubierten auch eher gering ist. Dafür haben aber die Angehörigen reichlich Fragen. Erst in der Schmerztherapie trifft der Anästhesist auf redselige Patienten, die Großes von ihm erhoffen.

Partialinteressen und Gebietsärzte

Wir haben auch die Augenheilkunde als eher patientenfern kennengelernt. Klar hängt an jedem kranken Auge auch ein Patient. Der allerdings hat mit dem Vorlesen von Buchstaben, die immer kleiner werden, seinen Beitrag zur Kommunikation geleistet. Der Arzt muss ihm dann nur noch sagen, wie häufig er die Augentropfen verwenden soll, aber das wird sicherheitshalber sowieso schriftlich dokumentiert.

In der Dermatologie besteht patientenseitig ein hoher Gesprächsbedarf. Vor allem bei Neurodermitis. Betroffene oder Eltern wüssten gerne Bescheid über Fingernagelpflege, optimale Raumtemperatur, Wollkleidung, Haustiere und Weichspüler. Und sie besprächen gerne die Heilerfahrungen der russischen Großmutter („Da muss viel Zwiebel drauf. Und Kohl.“). Leider ist aber der Hautarzt schon zügig in die nächste Kabine entwichen, nachdem er das Rezept für die Kortisonsalbe unterschrieben hat. Bestenfalls hat er noch das Merkblatt eines Fettsalben-Herstellers überreicht.

Müssen wir die Chirurgen erwähnen? Nein. Denn jeder Mensch wünscht sich für sich selber oder für die Angehörigen einen erfahrenen, geschickten Handwerker am OP-Tisch, keinen Kommunikator. Ich würde sogar so weit gehen, zu vermuten, dass gesprächsfreudige Chirurgen eher selten in den OP gerufen werden. Aber klar, es gibt ihn auch, den kommunikationsfreudigen und begabten Handwerker.

In der Diagnostik der Kardiologen ist ein Dialog mit dem Patienten oft gar nicht möglich, etwa weil der herzschallende Kollege aus Aserbaidschan stammt und die Sprache noch nicht ausreichend gut beherrscht. Außerdem kann er die Frage, ob sich ein Befund verbessert oder verschlechtert hat, nicht beantworten, weil ihm die Vorbefunde nicht vorliegen. Zumindest in der Klinik habe ich das als Patient so erlebt. Auch beim Herzkatheter hält der Patient besser die Klappe.

Untenrum ist näher dran

Die Urologen hingegen sind ein munteres und musikbegeistertes Völkchen. Vielleicht liegt das ja daran, dass sie mit der Behandlung von Prostatavergrößerungen einfach nicht ausgelastet sind. Jedenfalls treffen sie sich abends oft zum Musizieren und singen sogar während der Operation. Gerne flachsen sie auch mit den alten Herren herum, ebenfalls bis in den Operationssaal. Vielleicht würden sie gerne sogar manchen Greis abends zu ihren Jam-Sessions mitnehmen.

In der Geburtshilfe kann von einer Kommunikation auf Augenhöhe nicht die Rede sein. Zwar dürfen Entbindende sich ihr Lieblingsambiente aussuchen und ihre bevorzugte Gebärposition kundtun. Danach ist allerdings den strengen Befehlen der Hebamme und der Ärztin Folge zu leisten. Dabei wird gerne viel Empathie in die Stimme gelegt.

Empathie brauchen auch die Neurologen für eine aussagekräftige Diagnostik. Noch immer lässt sich eine tragfähige Diagnose erst nach ausführlicher manueller Untersuchung und verbaler Anamnese treffen, oft liefern sie bereits klare Hinweise auf die Krankheitsursache, auch in Zeiten modernster Kernspintomographen.

Stuhlkreis und Family Doc

Am anderen Ende der Skala der Patientennähe finden wir schließlich die Psychiater. In der Psychiatrie ist das Gespräch, sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie, der Schlüssel zum Therapiefortschritt. Nicht nur die Ärzte sprechen ständig mit ihren Patienten, dies tun auch die Pflegerinnen und Pfleger und sogar die Mitpatienten in den berühmten Stuhlkreisen. Die Psychiater haben für sich offensichtlich den kommunikationsintensivsten Weg als Fachärzte gefunden.

Aber halt! Da gibt es ja noch die Haus- und Allgemeinärzte. Sie müssen ja häufig ihre Patienten gar nicht nach der vermeintlichen Ursache für die Beschwerden fragen. Vielmehr ist ihnen die familiäre Konstellation seit Jahren bekannt und so deutlich vor Augen, dass die Beschwerdeursache oft leicht auszumachen ist. Ein trinkender Ehemann trägt maßgeblich dazu bei, dass sich die Kopfschmerzen der Ehefrau trotz hoch dosierter Schmerzmedikation und ausführlicher neurologischer Diagnostik nicht gebessert haben. Wer neigte nicht zur Depression, wenn ihm die Enkelkinder durch die Schwiegertochter entzogen werden? Und auch dafür kennt der Hausarzt die Gründe: Die Mutter ist es leid, von der Schwiegermutter ständig kritisiert zu werden. Der Hausarzt weiß, dass die Bauchschmerzen auf dem Schulweg mit den schlechten Noten des Halbjahreszeugnisses zu tun haben könnten, ohne das mit dem Schüler besprochen zu haben. Zwar hat der Hausarzt wenig Zeit für das Patientengespräch. Dafür sieht er aber den Patienten im Jahresverlauf immer und immer wieder. So ist vielleicht die Allgemeinmedizin die patientennächste Disziplin unter den Fachärzten. Und darum sind wir gerne Hausärzte.

Literaturtipp
Aus unserer Serie „Arzt als Patient“: „Vom Umgang unter Kollegen und was man vermeiden sollte“

Autor:
Nik Koneczny
Facharzt für Innere Medizin Universität Witten-Herdecke
Allgemeinmedizin

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